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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Dies war der Fall, wenn auch nicht im Sinne Zeschaus. Die oben ge¬
schilderte Mißstimmung reifte bei den Offizieren allmälig zum Entschluß, auch
die Gemeinen waren erbittert auf die Franzosen, sie wollten nicht, wie später
einer von ihnen sich äußerte, "an eine ausländische Nation versalbadert, ver¬
kauft und verrathen werden". Noch im Laufe des 17. und am Vormittag des
18. October verständigten sich die höheren Offiziere mit einander in Betreff des
Uebertritts zu den Verbündeten, und am Nachmittag des letzteren Tages be¬
gann derselbe. Ein am weitesten nach Taucha hin vorgeschobenes Bataillon
ging zuerst über. Etwas später folgte, von übermächtiger russischer Cavallerie
schwer bedroht, die Reiterei, ein Husaren- und ein Ulanenregiment, mit Hurrah¬
ruf, den Säbel in der Scheide nach. Als Ryssel und Brause dies bemerkten,
baten sie Zeschau, den König wissen zu lassen, daß der Wunsch des Heeres
Trennung von den Franzosen sei. Zeschau ging darauf ein. Nachmittags nach
zwei Uhr kam von Leipzig die schriftliche Antwort Friedrich Augusts, in welcher
die Truppen einfach auf "Erfüllung ihrer Pflichten" hingewiesen wurden. Als
Zeschau diesen Bescheid mittheilte, erwiderte Rysscl, daß die Pflicht gegen das
Vaterland die Grenze für die Pflicht gegen den Souverän ziehe, worauf es
einen Wortwechsel gab, nach welchem Ryssel einsah, daß er jetzt ohne Zeschau
zu handeln habe. Nach drei Uhr ergriff er die Gelegenheit, welche die Flucht
der hinter den Sachsen stehenden französischen Division Durutte vor den Brand-
racketen des englischen Hauptmanns Bogue darbot, und gab das verabredete
Zeichen, worauf Fußvolk und Artillerie sich nach der Linie der Verbündeten hin
in Bewegung setzten. Umsonst thut Zeschau Einspruch, erklärt Ryssel für ab¬
gesetzt, commandirt "Halt, Gewehr beim Fuß!" Vergebens jagt Reynier vor,
schreit: "Wo geht ihr hin? Was thut ihr?" Der Marsch geht weiter, nur
etwa 600 Mann bleiben, abgedrängt, bei Zeschau zurück. Dasselbe ist mit den
bei Stötteritz stehenden Kürassierer der Fall, die auch nicht können, was sie
möchten. Die übrigen Sachsen gelangen glücklich in die russischen Reihen
hinüber.

Sobald Bennigsen das Ereigniß dem russischen Kaiser und dem König von
Preußen gemeldet, ließen dieselben Ryssel und Brause zu sich rufen und dankten
ihnen für diesen Beweis deutscher Gesinnung, doch setzte Friedrich Wilhelm
hinzu, sie hätten lange auf sich warten lassen. Nach sächsischen Angaben hätten
die Bundesfürsten auch versichert, "daß durch den Uebertritt die Integrität
Sachsens gerettet worden sei". Dies klingt nicht wahrscheinlich, wenigstens ist
das Wort "Integrität" gewiß nicht gebraucht worden. Allein etwas Aehnliches
kann geäußert worden sein; denn was in Kalisch und Breslau in Betreff Nord¬
deutschlands verhandelt worden, war Oestreich zu Gefallen und weil der hohe Geist
Steins die Monarchen nicht mehr bestimmte, schon vor dem reichenbacher Ver¬
trage wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch sehr beschränkt worden, und so


53*

Dies war der Fall, wenn auch nicht im Sinne Zeschaus. Die oben ge¬
schilderte Mißstimmung reifte bei den Offizieren allmälig zum Entschluß, auch
die Gemeinen waren erbittert auf die Franzosen, sie wollten nicht, wie später
einer von ihnen sich äußerte, „an eine ausländische Nation versalbadert, ver¬
kauft und verrathen werden". Noch im Laufe des 17. und am Vormittag des
18. October verständigten sich die höheren Offiziere mit einander in Betreff des
Uebertritts zu den Verbündeten, und am Nachmittag des letzteren Tages be¬
gann derselbe. Ein am weitesten nach Taucha hin vorgeschobenes Bataillon
ging zuerst über. Etwas später folgte, von übermächtiger russischer Cavallerie
schwer bedroht, die Reiterei, ein Husaren- und ein Ulanenregiment, mit Hurrah¬
ruf, den Säbel in der Scheide nach. Als Ryssel und Brause dies bemerkten,
baten sie Zeschau, den König wissen zu lassen, daß der Wunsch des Heeres
Trennung von den Franzosen sei. Zeschau ging darauf ein. Nachmittags nach
zwei Uhr kam von Leipzig die schriftliche Antwort Friedrich Augusts, in welcher
die Truppen einfach auf „Erfüllung ihrer Pflichten" hingewiesen wurden. Als
Zeschau diesen Bescheid mittheilte, erwiderte Rysscl, daß die Pflicht gegen das
Vaterland die Grenze für die Pflicht gegen den Souverän ziehe, worauf es
einen Wortwechsel gab, nach welchem Ryssel einsah, daß er jetzt ohne Zeschau
zu handeln habe. Nach drei Uhr ergriff er die Gelegenheit, welche die Flucht
der hinter den Sachsen stehenden französischen Division Durutte vor den Brand-
racketen des englischen Hauptmanns Bogue darbot, und gab das verabredete
Zeichen, worauf Fußvolk und Artillerie sich nach der Linie der Verbündeten hin
in Bewegung setzten. Umsonst thut Zeschau Einspruch, erklärt Ryssel für ab¬
gesetzt, commandirt „Halt, Gewehr beim Fuß!" Vergebens jagt Reynier vor,
schreit: „Wo geht ihr hin? Was thut ihr?" Der Marsch geht weiter, nur
etwa 600 Mann bleiben, abgedrängt, bei Zeschau zurück. Dasselbe ist mit den
bei Stötteritz stehenden Kürassierer der Fall, die auch nicht können, was sie
möchten. Die übrigen Sachsen gelangen glücklich in die russischen Reihen
hinüber.

Sobald Bennigsen das Ereigniß dem russischen Kaiser und dem König von
Preußen gemeldet, ließen dieselben Ryssel und Brause zu sich rufen und dankten
ihnen für diesen Beweis deutscher Gesinnung, doch setzte Friedrich Wilhelm
hinzu, sie hätten lange auf sich warten lassen. Nach sächsischen Angaben hätten
die Bundesfürsten auch versichert, „daß durch den Uebertritt die Integrität
Sachsens gerettet worden sei". Dies klingt nicht wahrscheinlich, wenigstens ist
das Wort „Integrität" gewiß nicht gebraucht worden. Allein etwas Aehnliches
kann geäußert worden sein; denn was in Kalisch und Breslau in Betreff Nord¬
deutschlands verhandelt worden, war Oestreich zu Gefallen und weil der hohe Geist
Steins die Monarchen nicht mehr bestimmte, schon vor dem reichenbacher Ver¬
trage wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch sehr beschränkt worden, und so


53*
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[0445] Dies war der Fall, wenn auch nicht im Sinne Zeschaus. Die oben ge¬ schilderte Mißstimmung reifte bei den Offizieren allmälig zum Entschluß, auch die Gemeinen waren erbittert auf die Franzosen, sie wollten nicht, wie später einer von ihnen sich äußerte, „an eine ausländische Nation versalbadert, ver¬ kauft und verrathen werden". Noch im Laufe des 17. und am Vormittag des 18. October verständigten sich die höheren Offiziere mit einander in Betreff des Uebertritts zu den Verbündeten, und am Nachmittag des letzteren Tages be¬ gann derselbe. Ein am weitesten nach Taucha hin vorgeschobenes Bataillon ging zuerst über. Etwas später folgte, von übermächtiger russischer Cavallerie schwer bedroht, die Reiterei, ein Husaren- und ein Ulanenregiment, mit Hurrah¬ ruf, den Säbel in der Scheide nach. Als Ryssel und Brause dies bemerkten, baten sie Zeschau, den König wissen zu lassen, daß der Wunsch des Heeres Trennung von den Franzosen sei. Zeschau ging darauf ein. Nachmittags nach zwei Uhr kam von Leipzig die schriftliche Antwort Friedrich Augusts, in welcher die Truppen einfach auf „Erfüllung ihrer Pflichten" hingewiesen wurden. Als Zeschau diesen Bescheid mittheilte, erwiderte Rysscl, daß die Pflicht gegen das Vaterland die Grenze für die Pflicht gegen den Souverän ziehe, worauf es einen Wortwechsel gab, nach welchem Ryssel einsah, daß er jetzt ohne Zeschau zu handeln habe. Nach drei Uhr ergriff er die Gelegenheit, welche die Flucht der hinter den Sachsen stehenden französischen Division Durutte vor den Brand- racketen des englischen Hauptmanns Bogue darbot, und gab das verabredete Zeichen, worauf Fußvolk und Artillerie sich nach der Linie der Verbündeten hin in Bewegung setzten. Umsonst thut Zeschau Einspruch, erklärt Ryssel für ab¬ gesetzt, commandirt „Halt, Gewehr beim Fuß!" Vergebens jagt Reynier vor, schreit: „Wo geht ihr hin? Was thut ihr?" Der Marsch geht weiter, nur etwa 600 Mann bleiben, abgedrängt, bei Zeschau zurück. Dasselbe ist mit den bei Stötteritz stehenden Kürassierer der Fall, die auch nicht können, was sie möchten. Die übrigen Sachsen gelangen glücklich in die russischen Reihen hinüber. Sobald Bennigsen das Ereigniß dem russischen Kaiser und dem König von Preußen gemeldet, ließen dieselben Ryssel und Brause zu sich rufen und dankten ihnen für diesen Beweis deutscher Gesinnung, doch setzte Friedrich Wilhelm hinzu, sie hätten lange auf sich warten lassen. Nach sächsischen Angaben hätten die Bundesfürsten auch versichert, „daß durch den Uebertritt die Integrität Sachsens gerettet worden sei". Dies klingt nicht wahrscheinlich, wenigstens ist das Wort „Integrität" gewiß nicht gebraucht worden. Allein etwas Aehnliches kann geäußert worden sein; denn was in Kalisch und Breslau in Betreff Nord¬ deutschlands verhandelt worden, war Oestreich zu Gefallen und weil der hohe Geist Steins die Monarchen nicht mehr bestimmte, schon vor dem reichenbacher Ver¬ trage wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch sehr beschränkt worden, und so 53*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/445>, abgerufen am 29.06.2024.