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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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kann man sich wohl bis zu einen gewissen Grade Beitzke anschließen, wenn
er sagt: "Der Uebertritt des ganzen sächsischen Heeres vor dem Waffenstillstande
(vom 4. Juni), wenn er Thielmann gelungen wäre, hätte dem König ganz
Sachsen erhalten; der Uebergang der sächsischen Division bei Leipzig rettete ihm
wenigstens die Hälfte seines Landes; denn dies war das einzige Argument,
welches die fremden Mächte zur Erhaltung von Sachsen in Anwendung zu
bringen vermochten." Große Bedeutung für den Ausgang der Schlacht hatte
übrigens ,der Uebergang der Sachsen zu den bisherigen Feinden nicht. Jeder
Verständige, der seinen Verstand brauchen will, fleht, daß der Abfall von etwa
Vierthalbtausend Mann nicht einmal an der Stelle der Schlachtlinie Napoleons,
wo er geschah, eine durchschlagende Wirkung üben konnte, geschweige denn auf
den Gang des großen Kampfes von einer halben Million Kriegern. Höchstens
eine moralische Wirkung mag man zugestehen, da Freund und Feind jetzt
deutlich erkennen mußten, daß auch im Bewußtsein der Rheinbundstruppen die
Glorie Napoleons völlig ervlichen war.

Bei Friedrich August wird das nicht der Fall gewesen sein. Als die
Schlacht sich am 18. October näher nach der Stadt hingewälzt hatte und
einzelne Kugeln in die Straßen gefallen waren, hatte er sich in den Keller des
von ihm bewohnten Hauses geflüchtet. Hier kam zu ihm Zeschau und meldete
ihm betrübt, daß die Mehrzahl der ihm anvertrauten Mannschaften zum Feinde
übergegangen sei. "Desto größer ist der Werth derer, die treu blieben", er¬
widerte ihm der alte Herr. Bis zum Abend erhielten ihn die Franzosen
in dem Wahne, daß der Sieg sich ihnen zuneige. Erst um 9 Uhr enttäuschte
ihn ein sächsischer Offizier, und etwas später ließ ihm Napoleon selbst sagen,
daß er sich nach Erfurt zurückziehen werde, und ihm freistelle, ob er ihm da¬
hin folgen oder bleiben wolle. Er bleibe in Leipzig, ließ er dem Kaiser
antworten.

Am 19. früh kam Napoleon selbst, um Abschied zu nehmen. Friedrich
August, der Mann der strengsten Etiquette, empfing ihn, der in dein bekannten
grauen Ueberrock erschien, wie immer in Gala, Uniform mit Ordensband und
Stern, seidnen Strümpfen und Schuhen. Was sie während dieser Viertel¬
stunde mit einander geredet haben, weiß man nicht, doch läßt sich aus einer
späteren Aeußerung des Königs schließen, daß Napoleon ihm Muth einzusprechen
versucht hat. Als der Kaiser fort war, ging Friedrich August wieder in seinen
sichern Keller hinunter. Er war (wir erzählen nach Wuttke) völlig rathlos,
seine Lage höchst peinlich. "Was thun?" fragte er seinen Adjutanten v. Bose.
So rasch als möglich einen Unterhändler an die Verbündeten Herrscher schicken,
war die Antwort, und dieser Rath war gut; denn durch schnelles Unterhandeln
und geeignetes Befehlen in der Stadt, wo der König jetzt wieder einen Willen
haben durfte, hätte sich vielleicht wenigstens die Gefangenschaft abwenden lassen-


kann man sich wohl bis zu einen gewissen Grade Beitzke anschließen, wenn
er sagt: „Der Uebertritt des ganzen sächsischen Heeres vor dem Waffenstillstande
(vom 4. Juni), wenn er Thielmann gelungen wäre, hätte dem König ganz
Sachsen erhalten; der Uebergang der sächsischen Division bei Leipzig rettete ihm
wenigstens die Hälfte seines Landes; denn dies war das einzige Argument,
welches die fremden Mächte zur Erhaltung von Sachsen in Anwendung zu
bringen vermochten." Große Bedeutung für den Ausgang der Schlacht hatte
übrigens ,der Uebergang der Sachsen zu den bisherigen Feinden nicht. Jeder
Verständige, der seinen Verstand brauchen will, fleht, daß der Abfall von etwa
Vierthalbtausend Mann nicht einmal an der Stelle der Schlachtlinie Napoleons,
wo er geschah, eine durchschlagende Wirkung üben konnte, geschweige denn auf
den Gang des großen Kampfes von einer halben Million Kriegern. Höchstens
eine moralische Wirkung mag man zugestehen, da Freund und Feind jetzt
deutlich erkennen mußten, daß auch im Bewußtsein der Rheinbundstruppen die
Glorie Napoleons völlig ervlichen war.

Bei Friedrich August wird das nicht der Fall gewesen sein. Als die
Schlacht sich am 18. October näher nach der Stadt hingewälzt hatte und
einzelne Kugeln in die Straßen gefallen waren, hatte er sich in den Keller des
von ihm bewohnten Hauses geflüchtet. Hier kam zu ihm Zeschau und meldete
ihm betrübt, daß die Mehrzahl der ihm anvertrauten Mannschaften zum Feinde
übergegangen sei. „Desto größer ist der Werth derer, die treu blieben", er¬
widerte ihm der alte Herr. Bis zum Abend erhielten ihn die Franzosen
in dem Wahne, daß der Sieg sich ihnen zuneige. Erst um 9 Uhr enttäuschte
ihn ein sächsischer Offizier, und etwas später ließ ihm Napoleon selbst sagen,
daß er sich nach Erfurt zurückziehen werde, und ihm freistelle, ob er ihm da¬
hin folgen oder bleiben wolle. Er bleibe in Leipzig, ließ er dem Kaiser
antworten.

Am 19. früh kam Napoleon selbst, um Abschied zu nehmen. Friedrich
August, der Mann der strengsten Etiquette, empfing ihn, der in dein bekannten
grauen Ueberrock erschien, wie immer in Gala, Uniform mit Ordensband und
Stern, seidnen Strümpfen und Schuhen. Was sie während dieser Viertel¬
stunde mit einander geredet haben, weiß man nicht, doch läßt sich aus einer
späteren Aeußerung des Königs schließen, daß Napoleon ihm Muth einzusprechen
versucht hat. Als der Kaiser fort war, ging Friedrich August wieder in seinen
sichern Keller hinunter. Er war (wir erzählen nach Wuttke) völlig rathlos,
seine Lage höchst peinlich. „Was thun?" fragte er seinen Adjutanten v. Bose.
So rasch als möglich einen Unterhändler an die Verbündeten Herrscher schicken,
war die Antwort, und dieser Rath war gut; denn durch schnelles Unterhandeln
und geeignetes Befehlen in der Stadt, wo der König jetzt wieder einen Willen
haben durfte, hätte sich vielleicht wenigstens die Gefangenschaft abwenden lassen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/446>, abgerufen am 26.06.2024.