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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Und in gleichem Geiste war der (von Karl Müller verfaßte) Aufruf an die
Deutschen gehalten, den Kutusow am 26. März von Kalisch aus erließ. Die
Versicherungen zwar von der Uneigennützigst Ruhlands und die Behauptung,
es sei lediglich auf die "Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches" (des deutschen)
und auf Wiedererkämpfung von Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Deutsch'
lands abgesehen, klingen verdächtig. Aber es war auch von der Freiheit und
Unabhängigkeit der deutschen Fürsten darin die Rede, und wenn es hieß: "so
fordern sie (der Kaiser von Rußland und der König von Preußen) denn treues
Mitwirken, besonders von jedem deutschen Fürsten, und wollen dabei gern vor¬
aussehen, daß sich keiner finden werde unter ihnen, der, indem er verdeutschen
Sache abtrünnig sein und bleiben will, sich reif zeige der verdienten Vernichtung
durch die Kraft der öffentlichen Meinung und durch die Macht gerechter Waffen",
so hatte nur der Fürst seine Entthronung zu fürchten, der dem Aufruf nicht
Folge gab.

Wie stellte sich nun Sachsen diesen Ereignissen gegenüber? Die Stimmung
des Volkes war der Erhebung der preußischen Nachbarn gegen Napoleon nicht
ungünstig, und die ersten Aufrufe, die von diesen hierher gelangten,, regten
mächtig an. Eine Partei unter den höhern Beamten fürchtete die Volksbe¬
wegung in Preußen und die "revolutionären Mittel" der dortigen Regierung.
Der Hof blieb völlig unberührt, wenigstens ohne alles Verständniß von dem
hochsinnigen Streben, das in Preußen sich regte.

Der König Friedrich August war ein nicht für große Zeiten geschaffener
Geist. Im Privatleben ehrbar, als Regent im Innern etwas pedantisch, aber
gerecht und wohlwollend, war er in seiner äußeren Politik ein starrer Anhänger
Napoleons, dessen Genie ihm nach 1806 für immer imponirt. und der ihn
durch verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, durch Landschenkungen und
durch Verleihung des Königstitels zur Dankbarkeit verpflichtet hatte. Daß er
dennoch nichts anderes als ein von der Gnade des Imperators lebender Vasall
Frankreichs war, empfand er nicht. Daß es außer dem sächsischen Patriotis¬
mus noch einen anderen, höheren geben könne, blieb seinem engen Sinne
völlig verborgen. Auch die späteren erschütternden Ereignisse erweiterten seinen
Blick nicht, er war zu alt geworden, um heilbar zu sein. Als Napoleons
Niederlage in Rußland entschieden war, ließ er sich von dem auf seiner Flucht
in Dresden vorsprechenden kaiserlichen Gönner mit der Zusage baldiger Rück¬
kehr mit einem furchtbaren Heere trösten. Als die Russen an der deutschen
Grenze erschienen, und Preußen sich ihnen zuzuneigen begann, dachte er an
Flucht, die er drei Tage vor dem Vertrag von Kalisch ausführte. Welche Be¬
weggründe ihn dabei leiteten, sagt die Ansprache an sein Volk, die er am
23. Februar erließ, und in der es heißt:

"Dem politischen System, welchem wir seit sechs Jahren uns fest a nge-


Und in gleichem Geiste war der (von Karl Müller verfaßte) Aufruf an die
Deutschen gehalten, den Kutusow am 26. März von Kalisch aus erließ. Die
Versicherungen zwar von der Uneigennützigst Ruhlands und die Behauptung,
es sei lediglich auf die „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches" (des deutschen)
und auf Wiedererkämpfung von Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Deutsch'
lands abgesehen, klingen verdächtig. Aber es war auch von der Freiheit und
Unabhängigkeit der deutschen Fürsten darin die Rede, und wenn es hieß: „so
fordern sie (der Kaiser von Rußland und der König von Preußen) denn treues
Mitwirken, besonders von jedem deutschen Fürsten, und wollen dabei gern vor¬
aussehen, daß sich keiner finden werde unter ihnen, der, indem er verdeutschen
Sache abtrünnig sein und bleiben will, sich reif zeige der verdienten Vernichtung
durch die Kraft der öffentlichen Meinung und durch die Macht gerechter Waffen",
so hatte nur der Fürst seine Entthronung zu fürchten, der dem Aufruf nicht
Folge gab.

Wie stellte sich nun Sachsen diesen Ereignissen gegenüber? Die Stimmung
des Volkes war der Erhebung der preußischen Nachbarn gegen Napoleon nicht
ungünstig, und die ersten Aufrufe, die von diesen hierher gelangten,, regten
mächtig an. Eine Partei unter den höhern Beamten fürchtete die Volksbe¬
wegung in Preußen und die „revolutionären Mittel" der dortigen Regierung.
Der Hof blieb völlig unberührt, wenigstens ohne alles Verständniß von dem
hochsinnigen Streben, das in Preußen sich regte.

Der König Friedrich August war ein nicht für große Zeiten geschaffener
Geist. Im Privatleben ehrbar, als Regent im Innern etwas pedantisch, aber
gerecht und wohlwollend, war er in seiner äußeren Politik ein starrer Anhänger
Napoleons, dessen Genie ihm nach 1806 für immer imponirt. und der ihn
durch verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, durch Landschenkungen und
durch Verleihung des Königstitels zur Dankbarkeit verpflichtet hatte. Daß er
dennoch nichts anderes als ein von der Gnade des Imperators lebender Vasall
Frankreichs war, empfand er nicht. Daß es außer dem sächsischen Patriotis¬
mus noch einen anderen, höheren geben könne, blieb seinem engen Sinne
völlig verborgen. Auch die späteren erschütternden Ereignisse erweiterten seinen
Blick nicht, er war zu alt geworden, um heilbar zu sein. Als Napoleons
Niederlage in Rußland entschieden war, ließ er sich von dem auf seiner Flucht
in Dresden vorsprechenden kaiserlichen Gönner mit der Zusage baldiger Rück¬
kehr mit einem furchtbaren Heere trösten. Als die Russen an der deutschen
Grenze erschienen, und Preußen sich ihnen zuzuneigen begann, dachte er an
Flucht, die er drei Tage vor dem Vertrag von Kalisch ausführte. Welche Be¬
weggründe ihn dabei leiteten, sagt die Ansprache an sein Volk, die er am
23. Februar erließ, und in der es heißt:

„Dem politischen System, welchem wir seit sechs Jahren uns fest a nge-


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[0434] Und in gleichem Geiste war der (von Karl Müller verfaßte) Aufruf an die Deutschen gehalten, den Kutusow am 26. März von Kalisch aus erließ. Die Versicherungen zwar von der Uneigennützigst Ruhlands und die Behauptung, es sei lediglich auf die „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches" (des deutschen) und auf Wiedererkämpfung von Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Deutsch' lands abgesehen, klingen verdächtig. Aber es war auch von der Freiheit und Unabhängigkeit der deutschen Fürsten darin die Rede, und wenn es hieß: „so fordern sie (der Kaiser von Rußland und der König von Preußen) denn treues Mitwirken, besonders von jedem deutschen Fürsten, und wollen dabei gern vor¬ aussehen, daß sich keiner finden werde unter ihnen, der, indem er verdeutschen Sache abtrünnig sein und bleiben will, sich reif zeige der verdienten Vernichtung durch die Kraft der öffentlichen Meinung und durch die Macht gerechter Waffen", so hatte nur der Fürst seine Entthronung zu fürchten, der dem Aufruf nicht Folge gab. Wie stellte sich nun Sachsen diesen Ereignissen gegenüber? Die Stimmung des Volkes war der Erhebung der preußischen Nachbarn gegen Napoleon nicht ungünstig, und die ersten Aufrufe, die von diesen hierher gelangten,, regten mächtig an. Eine Partei unter den höhern Beamten fürchtete die Volksbe¬ wegung in Preußen und die „revolutionären Mittel" der dortigen Regierung. Der Hof blieb völlig unberührt, wenigstens ohne alles Verständniß von dem hochsinnigen Streben, das in Preußen sich regte. Der König Friedrich August war ein nicht für große Zeiten geschaffener Geist. Im Privatleben ehrbar, als Regent im Innern etwas pedantisch, aber gerecht und wohlwollend, war er in seiner äußeren Politik ein starrer Anhänger Napoleons, dessen Genie ihm nach 1806 für immer imponirt. und der ihn durch verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, durch Landschenkungen und durch Verleihung des Königstitels zur Dankbarkeit verpflichtet hatte. Daß er dennoch nichts anderes als ein von der Gnade des Imperators lebender Vasall Frankreichs war, empfand er nicht. Daß es außer dem sächsischen Patriotis¬ mus noch einen anderen, höheren geben könne, blieb seinem engen Sinne völlig verborgen. Auch die späteren erschütternden Ereignisse erweiterten seinen Blick nicht, er war zu alt geworden, um heilbar zu sein. Als Napoleons Niederlage in Rußland entschieden war, ließ er sich von dem auf seiner Flucht in Dresden vorsprechenden kaiserlichen Gönner mit der Zusage baldiger Rück¬ kehr mit einem furchtbaren Heere trösten. Als die Russen an der deutschen Grenze erschienen, und Preußen sich ihnen zuzuneigen begann, dachte er an Flucht, die er drei Tage vor dem Vertrag von Kalisch ausführte. Welche Be¬ weggründe ihn dabei leiteten, sagt die Ansprache an sein Volk, die er am 23. Februar erließ, und in der es heißt: „Dem politischen System, welchem wir seit sechs Jahren uns fest a nge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/434>, abgerufen am 28.09.2024.