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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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das Bibelwort, und zwar in viel reichlicherer Fülle als jetzt, die Ermahnung
und die festliche Betrachtung ihre Stelle hätte, keine Beachtung findet. Die
bloße Predigt aber bedarf nur des Saales.

Kommt indessen die Zeit, in welcher mit jener von Lessing und Schleier¬
macher wissenschaftlich vollzogenen Scheidung zwischen Theologie und Religion
Ernst gemacht, der Gottesdienst nur auf diese gegründet, der oberste Grund¬
satz des Protestantismus, der der unbedingten Uebcrzeugungsfreiheit, durchgesetzt,
die Theologie aus der Praxis der Kirche herausgehoben und blos unter die
Bedingungen der Wissenschaft gestellt wird; kommt die Zeit, in welcher auch
die Vertreter einer freien Wissenschaft und freien Bildung sich wieder mit ihren
Gemeindegenossen erbauen dürfen, ohne sich von der Kanzel herab verurtheilt
zu sehen: so werden wir auch über unseren Kirchenstil sicher sein. Wir werden
uns die alten kirchlichen Stilarten gefallen lassen. Oder bestände wahre religiöse
Freiheit einfach in dem Aufgeben der Formen, welche die Geschichte uns über¬
liefert hat? Und wäre für das harmonisch entwickelte religiöse Bewußtsein nur
die praktische Welt nöthig, um sie gestalten zu helfen, Spielraum zur Offen¬
barung aufopfernder Liebe, nicht auch etwa eine Welt ideeller Formen, um
sich frei darin darzustellen und zu symbolistren? Nun aber, eine solche Welt
von Typen, Symbolen und künstlerischen Actionen ist nicht erst zu erfinden, sie
hat sich erhalten als das Product einer langen historischen Entwickelung des
religiösen Bewußtseins, der Geist hat sie nach und nach, aus sich heraus¬
gestellt. Und wenn das noch unfreie Bewußtsein diese Cultusformen für
die Sache selbst, für baare Wirklichkeit nimmt, dürfen wir uns ihrer darum
nicht in voller geistiger Freiheit bedienen? Soll mich eine Madonna nicht
andächtig stimmen, von der ein armer Bauer die Heilung seiner körperlichen
Wunde erwartet? Diese Dinge sind Allen gemein, aber die Erziehung, die uns
zu ihnen in Verhältniß bringen soll, giebt uns im Fortrücken eine ver¬
schiedene Stellung zu ihnen. Alle wahre Erziehung wird, im Vertrauen auf
die Vernunft der Weltgeschichte, im Großen und Ganzen denselben Gang
nehmen, den diese genommen hat, und so wird uns nach einander jede
der wichtigeren zur Durchbildung gekommenen Lebensformen adäquat sein.
Weiterschreitend werden wir jede überwinden, aber nicht, um sie zu verlieren;
denn unser Wesen hebt die durchlebten Momente auf und ist ihre bewußte
Zusammenfassung. So, im Besonderen, ist es mit der religiösen Entwickelung
des Individuums auch. Man kann ein Kind so wenig wie einen Hottentotten
unmittelbar in die evangelische Freiheit setzen; beide wollen durch Heidenthum
und Judenthum, durch alle Formen des Katholicismus hindurchgeführt werden.
Daß die Meisten unterwegs stecken bleiben, ändert an der Sache nichts; geistige
Freiheit läßt sich nur schrittweise erringen und erkämpfen, oder sie wird inhalts¬
lose und im Grunde höchst unfreie Trivialität. Man kann der Schlange nicht


das Bibelwort, und zwar in viel reichlicherer Fülle als jetzt, die Ermahnung
und die festliche Betrachtung ihre Stelle hätte, keine Beachtung findet. Die
bloße Predigt aber bedarf nur des Saales.

Kommt indessen die Zeit, in welcher mit jener von Lessing und Schleier¬
macher wissenschaftlich vollzogenen Scheidung zwischen Theologie und Religion
Ernst gemacht, der Gottesdienst nur auf diese gegründet, der oberste Grund¬
satz des Protestantismus, der der unbedingten Uebcrzeugungsfreiheit, durchgesetzt,
die Theologie aus der Praxis der Kirche herausgehoben und blos unter die
Bedingungen der Wissenschaft gestellt wird; kommt die Zeit, in welcher auch
die Vertreter einer freien Wissenschaft und freien Bildung sich wieder mit ihren
Gemeindegenossen erbauen dürfen, ohne sich von der Kanzel herab verurtheilt
zu sehen: so werden wir auch über unseren Kirchenstil sicher sein. Wir werden
uns die alten kirchlichen Stilarten gefallen lassen. Oder bestände wahre religiöse
Freiheit einfach in dem Aufgeben der Formen, welche die Geschichte uns über¬
liefert hat? Und wäre für das harmonisch entwickelte religiöse Bewußtsein nur
die praktische Welt nöthig, um sie gestalten zu helfen, Spielraum zur Offen¬
barung aufopfernder Liebe, nicht auch etwa eine Welt ideeller Formen, um
sich frei darin darzustellen und zu symbolistren? Nun aber, eine solche Welt
von Typen, Symbolen und künstlerischen Actionen ist nicht erst zu erfinden, sie
hat sich erhalten als das Product einer langen historischen Entwickelung des
religiösen Bewußtseins, der Geist hat sie nach und nach, aus sich heraus¬
gestellt. Und wenn das noch unfreie Bewußtsein diese Cultusformen für
die Sache selbst, für baare Wirklichkeit nimmt, dürfen wir uns ihrer darum
nicht in voller geistiger Freiheit bedienen? Soll mich eine Madonna nicht
andächtig stimmen, von der ein armer Bauer die Heilung seiner körperlichen
Wunde erwartet? Diese Dinge sind Allen gemein, aber die Erziehung, die uns
zu ihnen in Verhältniß bringen soll, giebt uns im Fortrücken eine ver¬
schiedene Stellung zu ihnen. Alle wahre Erziehung wird, im Vertrauen auf
die Vernunft der Weltgeschichte, im Großen und Ganzen denselben Gang
nehmen, den diese genommen hat, und so wird uns nach einander jede
der wichtigeren zur Durchbildung gekommenen Lebensformen adäquat sein.
Weiterschreitend werden wir jede überwinden, aber nicht, um sie zu verlieren;
denn unser Wesen hebt die durchlebten Momente auf und ist ihre bewußte
Zusammenfassung. So, im Besonderen, ist es mit der religiösen Entwickelung
des Individuums auch. Man kann ein Kind so wenig wie einen Hottentotten
unmittelbar in die evangelische Freiheit setzen; beide wollen durch Heidenthum
und Judenthum, durch alle Formen des Katholicismus hindurchgeführt werden.
Daß die Meisten unterwegs stecken bleiben, ändert an der Sache nichts; geistige
Freiheit läßt sich nur schrittweise erringen und erkämpfen, oder sie wird inhalts¬
lose und im Grunde höchst unfreie Trivialität. Man kann der Schlange nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/412>, abgerufen am 29.06.2024.