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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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alle Bälge, die sie vor dem letzten noch haben soll, auf einmal herunterreißen:
sie müssen eben erst wachsen.

In diesem Sinne nun, meinen wir, sind uns auch die alten kirchlichen
Stilarten anerzogen. Die Gothik. sagten wir oben, entspreche einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen, weil sie einer
geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform in der Entwickelung der christlichen
Religion entspreche. Wohl wissen wir nun auf unserem Standpunkte, daß in
jenem abstracten Idealismus, den die Gothik zur Darstellung brachte, nicht
das ganze Wesen der Religion beschlossen liege, aber wir wissen auch, daß er
ein nothwendiger Durchgangspunkt zu einer höheren Form ist und einmal erlebt
sein muß. Und dann ist gewiß, daß, was einmal lebendige Ueberzeugung war,
den Sinnen Gesetz wird. Unser Geist sucht das Göttliche nicht in einem räumlichen
Jenseits, aber unser Auge wird nicht aufhören es oben zu suchen. Und durch diesen
symbolischen Jnstinct unserer Sinne wird die Gothik unmittelbar befürwortet.

Um alles zusammenzufassen, so ist nur nöthig, meinen wir. daß ein Ton
in der Accordlage unserer religiösen Empfindungen deutlich angeschlagen werde,
um den ganzen Accord voll erklingen zu lassen. Mit anderen Worten, jede
der alten zur Classicität durchgebildeten Stilarten, an sich nur einem einzelnen
Momente unseres religiösen Bewußtseins entsprechend, ist im Stande, unser
ganzes Wesen zu befriedigen. Da ist es dann oft nur die Frage der Mittel,
der allgemeinen Neigung, des persönlichen Geschickes, welcher Stil zu wählen
sei. Einer sklavischen Wiederholung aber wollen wir nirgends das Wort reden;
in dem höheren und freieren Bewußtsein werden sich die alten Formen immer
neu und verklärt gestalten.

Schließlich ein Wort von weltlicher Gothik. Die Neueren haben sie bis
in die letzte Zeit hinein, wo einige untergeordnete Eigenthümlichsten des alten
Häuserbaus, der Ziegelbuntbau, die Verzierung des Daches durch bunte Fliesen,
mit Vorliebe in Anwendung gebracht wurden, gar nicht von kirchlicher unter¬
schieden. Die älteren Meister haben aber in sehr glücklicher Weise die für den
weltlichen Stil geeigneten Motive der Gothik in ihrem Wesen erfaßt und auf
den Hausbau übertragen, den sie damit etwa in dieselbe Ähnlichkeit mit dem
Kirchenbau brachten, welche das Werktagskleid mit dem Feiertagskleide hat.
Beispiele von Häusern gothischer Einwirkung haben uns solche Städte aufbe¬
halten, die zur Zeit der Gothik blühten, dann aber, indem sie plötzlich sanken,
Weder Trieb noch Mittel hatten. in einem neueren Stiele umzubauen und die
somit eine Reihe alter Bauwerke in eine Zeit herüberretteten, die ihre Schön¬
heit wieder zu würdigen versteht. Voran stehen hier Braunschweig und Nürn-
berg. Der Gothik hat der Profanstil, der hier zur Anwendung gebracht wurde,
vor allem die starke Profilirung entlehnt, nur daß sie hier durch das umge¬
kehrte Mittel bewerkstelligt wird. Die obere Etage tritt nämlich gegen die


alle Bälge, die sie vor dem letzten noch haben soll, auf einmal herunterreißen:
sie müssen eben erst wachsen.

In diesem Sinne nun, meinen wir, sind uns auch die alten kirchlichen
Stilarten anerzogen. Die Gothik. sagten wir oben, entspreche einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen, weil sie einer
geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform in der Entwickelung der christlichen
Religion entspreche. Wohl wissen wir nun auf unserem Standpunkte, daß in
jenem abstracten Idealismus, den die Gothik zur Darstellung brachte, nicht
das ganze Wesen der Religion beschlossen liege, aber wir wissen auch, daß er
ein nothwendiger Durchgangspunkt zu einer höheren Form ist und einmal erlebt
sein muß. Und dann ist gewiß, daß, was einmal lebendige Ueberzeugung war,
den Sinnen Gesetz wird. Unser Geist sucht das Göttliche nicht in einem räumlichen
Jenseits, aber unser Auge wird nicht aufhören es oben zu suchen. Und durch diesen
symbolischen Jnstinct unserer Sinne wird die Gothik unmittelbar befürwortet.

Um alles zusammenzufassen, so ist nur nöthig, meinen wir. daß ein Ton
in der Accordlage unserer religiösen Empfindungen deutlich angeschlagen werde,
um den ganzen Accord voll erklingen zu lassen. Mit anderen Worten, jede
der alten zur Classicität durchgebildeten Stilarten, an sich nur einem einzelnen
Momente unseres religiösen Bewußtseins entsprechend, ist im Stande, unser
ganzes Wesen zu befriedigen. Da ist es dann oft nur die Frage der Mittel,
der allgemeinen Neigung, des persönlichen Geschickes, welcher Stil zu wählen
sei. Einer sklavischen Wiederholung aber wollen wir nirgends das Wort reden;
in dem höheren und freieren Bewußtsein werden sich die alten Formen immer
neu und verklärt gestalten.

Schließlich ein Wort von weltlicher Gothik. Die Neueren haben sie bis
in die letzte Zeit hinein, wo einige untergeordnete Eigenthümlichsten des alten
Häuserbaus, der Ziegelbuntbau, die Verzierung des Daches durch bunte Fliesen,
mit Vorliebe in Anwendung gebracht wurden, gar nicht von kirchlicher unter¬
schieden. Die älteren Meister haben aber in sehr glücklicher Weise die für den
weltlichen Stil geeigneten Motive der Gothik in ihrem Wesen erfaßt und auf
den Hausbau übertragen, den sie damit etwa in dieselbe Ähnlichkeit mit dem
Kirchenbau brachten, welche das Werktagskleid mit dem Feiertagskleide hat.
Beispiele von Häusern gothischer Einwirkung haben uns solche Städte aufbe¬
halten, die zur Zeit der Gothik blühten, dann aber, indem sie plötzlich sanken,
Weder Trieb noch Mittel hatten. in einem neueren Stiele umzubauen und die
somit eine Reihe alter Bauwerke in eine Zeit herüberretteten, die ihre Schön¬
heit wieder zu würdigen versteht. Voran stehen hier Braunschweig und Nürn-
berg. Der Gothik hat der Profanstil, der hier zur Anwendung gebracht wurde,
vor allem die starke Profilirung entlehnt, nur daß sie hier durch das umge¬
kehrte Mittel bewerkstelligt wird. Die obere Etage tritt nämlich gegen die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/413>, abgerufen am 26.06.2024.