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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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darf. Es braucht da einen Künstler, der so im Geiste jenes religiösen Idealis¬
mus zu denken und zu schaffen versteht, daß nicht nur die Formen im Großen
und Ganzen ihn offenbaren, sondern daß sich auch im Einzelnen nichts Fremd¬
artiges einschleiche; und es braucht da, nicht zwar der "fanatischen Anstrengungen
eines ganzen Geschlechts", aber der allerreichsten Mittel, denn ihrer Natur nach
darf die Gothik nicht einfach sein. Eben hierin wird bei gothischen Neubauten
so oft gefehlt. Nachdem man anfangs -- und die Manier der Nachahmung
hielt mit der Entwickelung der Erkenntniß gothischen Wesens gleichen Schritt
-- durch Aufkleben gothischer Zierrathe den rechten Effect erzielt zu haben
meinte, nachdem man den Spitzbogen wie ein Schiboleth behandelt und in die
massivsten Mauern gothische Fenster gebrochen hatte, die vielmehr Kellerluft
als Himmelsluft athmeten griff man zum deutschen Steinmetzengrunde und
schuf jene eckigen, nüchternen, poesielosen Bauten, die aus dem ersten besten
Kinderbaukasten modellirt schienen. Da war denn freilich ein gegebenes Motiv
verständig durchgeführt, aber das Motiv war kein poetisches.

Der Behauptung aber, daß die Gothik in unserer geistigen Welt keinen
Grund und Boden mehr habe, werden wir nicht beipflichten. Sie ist wenig¬
stens um nichts wahrer als die, daß die Kirche überhaupt von den Anschauungen,
die uns erfüllen, nicht mehr getragen werde. Daß beides in gewissem Sinne
und für den Augenblick, und wenn wir blos äußere Thatsächlichkeiten ins Auge
fassen, seine Wahrheit habe, wollen wir nicht läugnen. Im Gegentheil, es ist
Thatsache : die herrschende Theologie -- und sie vermeint denn doch die Kirche
zu sein -- wird von unserer gebildeten Welt, von der, die wir mit dem Namen
Lessings kennzeichnen wollen, nicht mehr verstanden, nicht anders wenigstens
denn als ein pathologisches Problem; und die herrschende Theologie ihrerseits
thut, als ob sie diese Bildung, ihre Aufgaben und ihre Sprache nicht verstände.
Man mag dies nun beklagen oder nicht; die strebende, kämpfende Welt, wie
sie verbündet mit den Mächten der Wissenschaft, der Arbeit und des Capitals
in tausend und abertausend Genossenschaften und Verbindungen daran arbeitet,
die Kräfte der Erde zu entbinden und nutzbar zu machen, thörichte Vorurtheile
zu beseitigen, welche die Production hindern, die Summe der Lebensgüter zu
mehren und den Menschen durch Arbeit und Bildung unabhängiger und höher
zu stellen: diese Welt voller "Kinder der Welt", behilft sich einstweilen ohne
Kirche, und die Theologen constatiren das sonntäglich aller Orten. Mit
der Religion dieser Welt aber steht es anders wie mit ihrer Kirchlichkeit.
Nicht blos daß sie keine Hexen mehr verbrennt und keine Verfolgungen mehr
anstellt, sondern sie entwickelt einige positive Eigenschaften, die uns sehr werth-
voll und mit der Religion nahe verwandt scheinen. Ist sie zwar zur Resignation
wenig geneigt, so arbeitet sie dagegen und arbeitet mit einem Eifer, einer
Rüstigkeit, einem Vorwärtsdringen, daß kein Zeitalter etwas entfernt Aehnliches


Grenzboten II. 1865. 49

darf. Es braucht da einen Künstler, der so im Geiste jenes religiösen Idealis¬
mus zu denken und zu schaffen versteht, daß nicht nur die Formen im Großen
und Ganzen ihn offenbaren, sondern daß sich auch im Einzelnen nichts Fremd¬
artiges einschleiche; und es braucht da, nicht zwar der „fanatischen Anstrengungen
eines ganzen Geschlechts", aber der allerreichsten Mittel, denn ihrer Natur nach
darf die Gothik nicht einfach sein. Eben hierin wird bei gothischen Neubauten
so oft gefehlt. Nachdem man anfangs — und die Manier der Nachahmung
hielt mit der Entwickelung der Erkenntniß gothischen Wesens gleichen Schritt
— durch Aufkleben gothischer Zierrathe den rechten Effect erzielt zu haben
meinte, nachdem man den Spitzbogen wie ein Schiboleth behandelt und in die
massivsten Mauern gothische Fenster gebrochen hatte, die vielmehr Kellerluft
als Himmelsluft athmeten griff man zum deutschen Steinmetzengrunde und
schuf jene eckigen, nüchternen, poesielosen Bauten, die aus dem ersten besten
Kinderbaukasten modellirt schienen. Da war denn freilich ein gegebenes Motiv
verständig durchgeführt, aber das Motiv war kein poetisches.

Der Behauptung aber, daß die Gothik in unserer geistigen Welt keinen
Grund und Boden mehr habe, werden wir nicht beipflichten. Sie ist wenig¬
stens um nichts wahrer als die, daß die Kirche überhaupt von den Anschauungen,
die uns erfüllen, nicht mehr getragen werde. Daß beides in gewissem Sinne
und für den Augenblick, und wenn wir blos äußere Thatsächlichkeiten ins Auge
fassen, seine Wahrheit habe, wollen wir nicht läugnen. Im Gegentheil, es ist
Thatsache : die herrschende Theologie — und sie vermeint denn doch die Kirche
zu sein — wird von unserer gebildeten Welt, von der, die wir mit dem Namen
Lessings kennzeichnen wollen, nicht mehr verstanden, nicht anders wenigstens
denn als ein pathologisches Problem; und die herrschende Theologie ihrerseits
thut, als ob sie diese Bildung, ihre Aufgaben und ihre Sprache nicht verstände.
Man mag dies nun beklagen oder nicht; die strebende, kämpfende Welt, wie
sie verbündet mit den Mächten der Wissenschaft, der Arbeit und des Capitals
in tausend und abertausend Genossenschaften und Verbindungen daran arbeitet,
die Kräfte der Erde zu entbinden und nutzbar zu machen, thörichte Vorurtheile
zu beseitigen, welche die Production hindern, die Summe der Lebensgüter zu
mehren und den Menschen durch Arbeit und Bildung unabhängiger und höher
zu stellen: diese Welt voller „Kinder der Welt", behilft sich einstweilen ohne
Kirche, und die Theologen constatiren das sonntäglich aller Orten. Mit
der Religion dieser Welt aber steht es anders wie mit ihrer Kirchlichkeit.
Nicht blos daß sie keine Hexen mehr verbrennt und keine Verfolgungen mehr
anstellt, sondern sie entwickelt einige positive Eigenschaften, die uns sehr werth-
voll und mit der Religion nahe verwandt scheinen. Ist sie zwar zur Resignation
wenig geneigt, so arbeitet sie dagegen und arbeitet mit einem Eifer, einer
Rüstigkeit, einem Vorwärtsdringen, daß kein Zeitalter etwas entfernt Aehnliches


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/409>, abgerufen am 29.06.2024.