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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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er bei feinen Bauten weniger gefühlt als gemessen, mehr.gerechnet als un¬
mittelbare Empfindung zum Ausdruck gebracht habe. Und hiernach warfen
sich die Romantiker, die doch sonst alle Regel durchbrachen, in das Lob der
gothischen Bauwerke und priesen sie als Erzeugnisse eines wahlverwandten
Geistes.

Es kann demnach das geometrische Element des gothischen Stils sich doch nicht
so auf Kosten des freien, phantastischen hervorthun, daß es ihm zur Verurtheilung
gereichen könnte. Von Nachahmungen, natürlich, sehen wir ab. Die aufge¬
fundenen Meistermodelle dürfen hier ebensowenig in Betracht kommen; denn
die Prüfung hat vor allem die sichere Handhabung der Regel zu fordern.
Daß es aber einen ausgeführten älteren Bau gebe, an welchem die handwerks¬
mäßig peinliche Durchführung der zu Grunde gelegten Triangulatur oder
Quadratur ohne Rest nachgewiesen werden könnte, müssen wir bezweifeln.
Die geometrische Regel ist, um es mit einem Worte zu sagen, die Metrik des
in Steinen dichtenden Baumeisters. Der jambische Trimeter sollte der Regel
nach aus einer Reihe von sechs Jamben bestehen, aber in Wahrheit zeigt
er neben dem Jambus den Tribrachys, den Spondeus, den Daktylus, den
Anapäst, den Proceleusmaticus. und doch hält die Gewalt des Rythmus den
Charakter der Versart fest, die durch solche Auflösungen an Reiz nur gewinnt.
So verhält sichs auch mit Maß und Gerechtigkeit der gothischen Baukunst. Daß
sie überall ihrem Material bestimmte Maßverhältnisse auflegt, hat sie mit aller
Baukunst gemein -- Dicke und Verjüngung der griechischen Säule haben ihr
Maß an deren Höhe, die Höhe an den Grundverhältnissen des Baues -- ja
sie erfüllt darin nur die erste Bedingung aller künstlerischen Production über¬
haupt. Ihre besondere Methode aber, die Maßverhältnisse zu entwerfen, ist
so frei wie irgend eine und läßt alle möglichen metrischen Auflösungen zu.
Aus derselben Triangulatur läßt sich der normale, der gedrückte, der überhöhte,
der geschweifte Spitzbogen entwerfen, läßt sich ein niedrigstes, ein mittleres,
ein höchstes Maß für jedes Glied finden. Sind im Entwürfe der Proportionen
die Zahlen 2, 4. 8 dominirend, so bietet die Gothik Vermittelungen und Uever-
gänge genug dar, um auch aus der 3. und ihren Vielfachen Bildungen zu unter¬
nehmen. Wie wenig Zwang in den geometrischen Regeln der Gothik liegt,
beweist der große Unterschied im Charakter des englischen Kirchenstils mit seinen
breiten, gedrückten Fenstern und seinen Zinnenthürmcn und des deutschen mit seinen
durchgehends hohen und schlanken Formen.

Wir gehen nun mit wenigen Worten auf die praktischen Beziehungen
unseres Gegenstandes ein. Wenn wir trotz unserer Sympathie für den gothischen
Stil die Frage, ob man denselben bei kirchlichen Neubauten anwenden solle,
nicht ohne, Weiteres bejahen, so geschieht es nur, weil wir uns der schwierigen
Bedingungen bewußt sind, unter denen ausschließlich er zur Anwendung kommen


er bei feinen Bauten weniger gefühlt als gemessen, mehr.gerechnet als un¬
mittelbare Empfindung zum Ausdruck gebracht habe. Und hiernach warfen
sich die Romantiker, die doch sonst alle Regel durchbrachen, in das Lob der
gothischen Bauwerke und priesen sie als Erzeugnisse eines wahlverwandten
Geistes.

Es kann demnach das geometrische Element des gothischen Stils sich doch nicht
so auf Kosten des freien, phantastischen hervorthun, daß es ihm zur Verurtheilung
gereichen könnte. Von Nachahmungen, natürlich, sehen wir ab. Die aufge¬
fundenen Meistermodelle dürfen hier ebensowenig in Betracht kommen; denn
die Prüfung hat vor allem die sichere Handhabung der Regel zu fordern.
Daß es aber einen ausgeführten älteren Bau gebe, an welchem die handwerks¬
mäßig peinliche Durchführung der zu Grunde gelegten Triangulatur oder
Quadratur ohne Rest nachgewiesen werden könnte, müssen wir bezweifeln.
Die geometrische Regel ist, um es mit einem Worte zu sagen, die Metrik des
in Steinen dichtenden Baumeisters. Der jambische Trimeter sollte der Regel
nach aus einer Reihe von sechs Jamben bestehen, aber in Wahrheit zeigt
er neben dem Jambus den Tribrachys, den Spondeus, den Daktylus, den
Anapäst, den Proceleusmaticus. und doch hält die Gewalt des Rythmus den
Charakter der Versart fest, die durch solche Auflösungen an Reiz nur gewinnt.
So verhält sichs auch mit Maß und Gerechtigkeit der gothischen Baukunst. Daß
sie überall ihrem Material bestimmte Maßverhältnisse auflegt, hat sie mit aller
Baukunst gemein — Dicke und Verjüngung der griechischen Säule haben ihr
Maß an deren Höhe, die Höhe an den Grundverhältnissen des Baues — ja
sie erfüllt darin nur die erste Bedingung aller künstlerischen Production über¬
haupt. Ihre besondere Methode aber, die Maßverhältnisse zu entwerfen, ist
so frei wie irgend eine und läßt alle möglichen metrischen Auflösungen zu.
Aus derselben Triangulatur läßt sich der normale, der gedrückte, der überhöhte,
der geschweifte Spitzbogen entwerfen, läßt sich ein niedrigstes, ein mittleres,
ein höchstes Maß für jedes Glied finden. Sind im Entwürfe der Proportionen
die Zahlen 2, 4. 8 dominirend, so bietet die Gothik Vermittelungen und Uever-
gänge genug dar, um auch aus der 3. und ihren Vielfachen Bildungen zu unter¬
nehmen. Wie wenig Zwang in den geometrischen Regeln der Gothik liegt,
beweist der große Unterschied im Charakter des englischen Kirchenstils mit seinen
breiten, gedrückten Fenstern und seinen Zinnenthürmcn und des deutschen mit seinen
durchgehends hohen und schlanken Formen.

Wir gehen nun mit wenigen Worten auf die praktischen Beziehungen
unseres Gegenstandes ein. Wenn wir trotz unserer Sympathie für den gothischen
Stil die Frage, ob man denselben bei kirchlichen Neubauten anwenden solle,
nicht ohne, Weiteres bejahen, so geschieht es nur, weil wir uns der schwierigen
Bedingungen bewußt sind, unter denen ausschließlich er zur Anwendung kommen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/408>, abgerufen am 29.06.2024.