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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Thomas von Aquino in den Geist seiner Zeit eindringen wollte, ihre idealistische
Begeisterung spüren? Und doch war sie vorhanden, und doch stand sie im innig¬
sten Zusammenhange mit der Formelphilosophie des Thomas und war -- wir
haben es oben angedeutet -- durch dieselbe entbunden. Und ähnlich verhält
sichs mit den Architekturerzeugnissen jener Periode, nur daß hier das Formel¬
hafte, Schematische dem Stoffe an und für sich angemessen ist. Aber wer sollte,
wenn er gothische Bauwerke selbst noch nicht gesehen hätte, aus einer solchen
geometrischen Constructionsregel auf einen feierlich ergreifenden Bau schließen? Die
Wahrheit ist. daß man, wenn man hier wie dort das Leben selbst betrachtet,
auf die Formel gar nicht räth. Und was ist damit gesagt, wenn behauptet
Wird, die Facade des kölner Domes sei nur die verständige Durchführung eines
gegebenen poetischen Gedankens? Dasselbe läßt sich von einer vachschen Fuge
sagen, und doch läßt sie den, der einmal Sinn für ernsten Stil hat, nicht
wieder los, auch wenn er dem Geheimnisse ihres Satzes beigekommen ist; und
doch wird kein Lebender, auch mit der Regel in der Hand, dem Meister eine
solche Fuge nachthun. Und bemerkenswerth ist es doch auch, daß die Einsicht
in die geometrische Grundlage des gothischen Stils erst so spät, erst zuletzt
gewonnen wurde. Vorauf ging jene besondere von Sir James Hall ausge¬
bildete Theorie, die von dem unmittelbaren Eindrucke ausging, und die in den
Schäften die Nachbildung von Bäumen, in den Rippen die von gegeneinander-
gcneigten Zweigen, in dem Maßwerke geflochtenes Weidenwerk sah. Dann
suchte man alle Formen der Gothik auf die des gleichseitigen Dreiecks zu
reduciren und, da diese Reduction nicht überall zutraf, so gab man das Ge¬
heimniß der Gothik verloren. Da gewährte ein Büchlein des regensburger
Dombaumeisters Mathäus Roriczer (vom Jahre 1486) und ein von Stieglitz
herausgegebenes Manuscript aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts will¬
kommenen Aufschluß, einige aufgefundene Steinmetzenmeisterstücke gaben Er¬
läuterung, und nun stellte Friedrich Hoffstatt in seinem "gothischen ABC"
(1840) die gewonnenen Einsichten systematisch zusammen. Das ist der Gang,
den die Erkenntniß gothischer Kunst nahm. Und wann und wo überhaupt
begann er? Nach langer allgemeiner Abneigung gegen die Gothik zog sie erst
in der Sturm- und Drangperiode wieder das Interesse der stürmischen brausen¬
den Jugend aus sich. Goethes dithyrambischer Erguß "von deutscher Bau¬
kunst" wird die erste Schutzrede sein, die ihr zu Theil wurde. Und was sah
er dem Straßburger Münster ab? "Ein ganzer, großer Eindruck," sagt er,
"füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten
bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären
konnte." Wie Bäume Gottes gemahnte ihn der überraschende Anblick. Dem
Welschen aber wirft er vor, ganz hingenommen von der großen lebensvollen
Erscheinung, die er für die eigentlichste Offenbarung deutschen Geistes hält, daß


Thomas von Aquino in den Geist seiner Zeit eindringen wollte, ihre idealistische
Begeisterung spüren? Und doch war sie vorhanden, und doch stand sie im innig¬
sten Zusammenhange mit der Formelphilosophie des Thomas und war — wir
haben es oben angedeutet — durch dieselbe entbunden. Und ähnlich verhält
sichs mit den Architekturerzeugnissen jener Periode, nur daß hier das Formel¬
hafte, Schematische dem Stoffe an und für sich angemessen ist. Aber wer sollte,
wenn er gothische Bauwerke selbst noch nicht gesehen hätte, aus einer solchen
geometrischen Constructionsregel auf einen feierlich ergreifenden Bau schließen? Die
Wahrheit ist. daß man, wenn man hier wie dort das Leben selbst betrachtet,
auf die Formel gar nicht räth. Und was ist damit gesagt, wenn behauptet
Wird, die Facade des kölner Domes sei nur die verständige Durchführung eines
gegebenen poetischen Gedankens? Dasselbe läßt sich von einer vachschen Fuge
sagen, und doch läßt sie den, der einmal Sinn für ernsten Stil hat, nicht
wieder los, auch wenn er dem Geheimnisse ihres Satzes beigekommen ist; und
doch wird kein Lebender, auch mit der Regel in der Hand, dem Meister eine
solche Fuge nachthun. Und bemerkenswerth ist es doch auch, daß die Einsicht
in die geometrische Grundlage des gothischen Stils erst so spät, erst zuletzt
gewonnen wurde. Vorauf ging jene besondere von Sir James Hall ausge¬
bildete Theorie, die von dem unmittelbaren Eindrucke ausging, und die in den
Schäften die Nachbildung von Bäumen, in den Rippen die von gegeneinander-
gcneigten Zweigen, in dem Maßwerke geflochtenes Weidenwerk sah. Dann
suchte man alle Formen der Gothik auf die des gleichseitigen Dreiecks zu
reduciren und, da diese Reduction nicht überall zutraf, so gab man das Ge¬
heimniß der Gothik verloren. Da gewährte ein Büchlein des regensburger
Dombaumeisters Mathäus Roriczer (vom Jahre 1486) und ein von Stieglitz
herausgegebenes Manuscript aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts will¬
kommenen Aufschluß, einige aufgefundene Steinmetzenmeisterstücke gaben Er¬
läuterung, und nun stellte Friedrich Hoffstatt in seinem „gothischen ABC"
(1840) die gewonnenen Einsichten systematisch zusammen. Das ist der Gang,
den die Erkenntniß gothischer Kunst nahm. Und wann und wo überhaupt
begann er? Nach langer allgemeiner Abneigung gegen die Gothik zog sie erst
in der Sturm- und Drangperiode wieder das Interesse der stürmischen brausen¬
den Jugend aus sich. Goethes dithyrambischer Erguß „von deutscher Bau¬
kunst" wird die erste Schutzrede sein, die ihr zu Theil wurde. Und was sah
er dem Straßburger Münster ab? „Ein ganzer, großer Eindruck," sagt er,
»füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten
bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären
konnte." Wie Bäume Gottes gemahnte ihn der überraschende Anblick. Dem
Welschen aber wirft er vor, ganz hingenommen von der großen lebensvollen
Erscheinung, die er für die eigentlichste Offenbarung deutschen Geistes hält, daß


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[0407] Thomas von Aquino in den Geist seiner Zeit eindringen wollte, ihre idealistische Begeisterung spüren? Und doch war sie vorhanden, und doch stand sie im innig¬ sten Zusammenhange mit der Formelphilosophie des Thomas und war — wir haben es oben angedeutet — durch dieselbe entbunden. Und ähnlich verhält sichs mit den Architekturerzeugnissen jener Periode, nur daß hier das Formel¬ hafte, Schematische dem Stoffe an und für sich angemessen ist. Aber wer sollte, wenn er gothische Bauwerke selbst noch nicht gesehen hätte, aus einer solchen geometrischen Constructionsregel auf einen feierlich ergreifenden Bau schließen? Die Wahrheit ist. daß man, wenn man hier wie dort das Leben selbst betrachtet, auf die Formel gar nicht räth. Und was ist damit gesagt, wenn behauptet Wird, die Facade des kölner Domes sei nur die verständige Durchführung eines gegebenen poetischen Gedankens? Dasselbe läßt sich von einer vachschen Fuge sagen, und doch läßt sie den, der einmal Sinn für ernsten Stil hat, nicht wieder los, auch wenn er dem Geheimnisse ihres Satzes beigekommen ist; und doch wird kein Lebender, auch mit der Regel in der Hand, dem Meister eine solche Fuge nachthun. Und bemerkenswerth ist es doch auch, daß die Einsicht in die geometrische Grundlage des gothischen Stils erst so spät, erst zuletzt gewonnen wurde. Vorauf ging jene besondere von Sir James Hall ausge¬ bildete Theorie, die von dem unmittelbaren Eindrucke ausging, und die in den Schäften die Nachbildung von Bäumen, in den Rippen die von gegeneinander- gcneigten Zweigen, in dem Maßwerke geflochtenes Weidenwerk sah. Dann suchte man alle Formen der Gothik auf die des gleichseitigen Dreiecks zu reduciren und, da diese Reduction nicht überall zutraf, so gab man das Ge¬ heimniß der Gothik verloren. Da gewährte ein Büchlein des regensburger Dombaumeisters Mathäus Roriczer (vom Jahre 1486) und ein von Stieglitz herausgegebenes Manuscript aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts will¬ kommenen Aufschluß, einige aufgefundene Steinmetzenmeisterstücke gaben Er¬ läuterung, und nun stellte Friedrich Hoffstatt in seinem „gothischen ABC" (1840) die gewonnenen Einsichten systematisch zusammen. Das ist der Gang, den die Erkenntniß gothischer Kunst nahm. Und wann und wo überhaupt begann er? Nach langer allgemeiner Abneigung gegen die Gothik zog sie erst in der Sturm- und Drangperiode wieder das Interesse der stürmischen brausen¬ den Jugend aus sich. Goethes dithyrambischer Erguß „von deutscher Bau¬ kunst" wird die erste Schutzrede sein, die ihr zu Theil wurde. Und was sah er dem Straßburger Münster ab? „Ein ganzer, großer Eindruck," sagt er, »füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte." Wie Bäume Gottes gemahnte ihn der überraschende Anblick. Dem Welschen aber wirft er vor, ganz hingenommen von der großen lebensvollen Erscheinung, die er für die eigentlichste Offenbarung deutschen Geistes hält, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/407>, abgerufen am 29.06.2024.