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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Gefühl, welches unter all den subtilen scholastischen Untersuchungen lebendig
arbeitete, bei den Einen freilich durch die überwuchernde Fülle von Formeln
erstickt wurde, bei den Andern aber langsam die Fesseln abstreifte, um -- in
der Mystik des vierzehnten Jahrhunderts -- zu freiester Bewegung hervorzutreten.
Dies innige Verlangen nach höherem Lebensinhalte, nach unmittelbarer Fühlung
des Unendlichen, das ist der positive Gesammtausdruck des gothischen Baues.

nachdrücklich macht es unser Kritiker dem gothischen Stile zum Vorwurf,
daß er, eben in seiner Verkennung architektonischer Gesetze, Zweck und Mittel
für die Betrachtung auseinanderreiße. Vergeblich, sagt er etwa, suchen wir
im Innern des Gebäudes nach ausreichend starken Widerlagern für die Ge¬
wölbe, und draußen stehend nach dem Zwecke der Strebepfeiler, die starrend,
stemmend, steifend den ganzen Bau umstehen. Wir halten diese Wahrnehmung
nicht für ganz richtig, und sie scheint auf Grund eines theoretischen Schlusses
gemacht zu sein. Das Auge, von dem Schein des Organischen hingenommen,
sieht gar nicht unter architektonischen Gesichtspunkten, erfüllt sich gar nicht mit
der Voraussetzung der Last und des Seitenschubes, sondern hat im Innern
den sich selbst unmittelbar erklärenden Anblick eines "steinernen Hochwaldes"
(nach Hases Ausdruck), draußen den eines feierlich emporsteigenden Monumentes
zur Ehre Gottes. Es ist wahr, daß der Zweck des einzelnen Strebepfeilers
sich dem Auge verbirgt, aber es sucht ihn auch nicht, indem es dem ganzen
Strebesystem die Bestimmung leiht, den ganzen mächtigen Bau zugleich kräftig
zusammenzuhalten und dem Langhause eine dem Thurmbau analoge monumen¬
tale Gestalt zu geben. Uebrigens hört da jede Frage auf, wo der Strebepfeiler
Postament, Rückwand und Dach für eine Statue abgiebt; da tritt er dem
Auge als ein für sich Zweckmäßiges entgegen.

Suchen wir den Inhalt aller dieser Wahrnehmungen in einen Ausdruck
zusammenzufassen, so werden wir sagen müssen, daß die Gothik überhaupt
nicht als bloße Architektur anzusprechen sei. Sie ist eine Mischung von Plastik
und Architektur, nicht nur sofern ihre gesammte Ornamentik, ohne welche sie
gar nicht zum Ausdruck kommt, wirklich bildhauerische Arbeit ist, sondern vor¬
züglich, sofern sie durch bauliche Mittel einen wenn auch noch so leichten Schein
organischen Lebens hervorzubringen trachtet. Diesem ihrem innersten Streben
zu Liebe verbirgt sie das Walten architektonischer Gesetze, deren auch sie nicht
entrathen kann. Sie ist Plastik in freiesten, größten Formen; der Architektur
entlehnt sie ihre Mittel, ohne es einzugestehen. Daß ein Geschlecht, dem sich
die einzelnen geistigen Functionen noch nicht zur Selbständigkeit entwickelt haben,
Vielmehr in dem einen Drange nach Oben unentfaltet zusammenschließen, das
alle Dinge unter den Gesichtspunkt des Jenseits stellt und auch in das Auge
unvermerkt die Tendenz zur Höhe aufnimmt, um der zu erreichenden Erhaben¬
heit und Großartigkeit willen eine solche Vermischung der Künste vornimmt, ist


Gefühl, welches unter all den subtilen scholastischen Untersuchungen lebendig
arbeitete, bei den Einen freilich durch die überwuchernde Fülle von Formeln
erstickt wurde, bei den Andern aber langsam die Fesseln abstreifte, um — in
der Mystik des vierzehnten Jahrhunderts — zu freiester Bewegung hervorzutreten.
Dies innige Verlangen nach höherem Lebensinhalte, nach unmittelbarer Fühlung
des Unendlichen, das ist der positive Gesammtausdruck des gothischen Baues.

nachdrücklich macht es unser Kritiker dem gothischen Stile zum Vorwurf,
daß er, eben in seiner Verkennung architektonischer Gesetze, Zweck und Mittel
für die Betrachtung auseinanderreiße. Vergeblich, sagt er etwa, suchen wir
im Innern des Gebäudes nach ausreichend starken Widerlagern für die Ge¬
wölbe, und draußen stehend nach dem Zwecke der Strebepfeiler, die starrend,
stemmend, steifend den ganzen Bau umstehen. Wir halten diese Wahrnehmung
nicht für ganz richtig, und sie scheint auf Grund eines theoretischen Schlusses
gemacht zu sein. Das Auge, von dem Schein des Organischen hingenommen,
sieht gar nicht unter architektonischen Gesichtspunkten, erfüllt sich gar nicht mit
der Voraussetzung der Last und des Seitenschubes, sondern hat im Innern
den sich selbst unmittelbar erklärenden Anblick eines „steinernen Hochwaldes"
(nach Hases Ausdruck), draußen den eines feierlich emporsteigenden Monumentes
zur Ehre Gottes. Es ist wahr, daß der Zweck des einzelnen Strebepfeilers
sich dem Auge verbirgt, aber es sucht ihn auch nicht, indem es dem ganzen
Strebesystem die Bestimmung leiht, den ganzen mächtigen Bau zugleich kräftig
zusammenzuhalten und dem Langhause eine dem Thurmbau analoge monumen¬
tale Gestalt zu geben. Uebrigens hört da jede Frage auf, wo der Strebepfeiler
Postament, Rückwand und Dach für eine Statue abgiebt; da tritt er dem
Auge als ein für sich Zweckmäßiges entgegen.

Suchen wir den Inhalt aller dieser Wahrnehmungen in einen Ausdruck
zusammenzufassen, so werden wir sagen müssen, daß die Gothik überhaupt
nicht als bloße Architektur anzusprechen sei. Sie ist eine Mischung von Plastik
und Architektur, nicht nur sofern ihre gesammte Ornamentik, ohne welche sie
gar nicht zum Ausdruck kommt, wirklich bildhauerische Arbeit ist, sondern vor¬
züglich, sofern sie durch bauliche Mittel einen wenn auch noch so leichten Schein
organischen Lebens hervorzubringen trachtet. Diesem ihrem innersten Streben
zu Liebe verbirgt sie das Walten architektonischer Gesetze, deren auch sie nicht
entrathen kann. Sie ist Plastik in freiesten, größten Formen; der Architektur
entlehnt sie ihre Mittel, ohne es einzugestehen. Daß ein Geschlecht, dem sich
die einzelnen geistigen Functionen noch nicht zur Selbständigkeit entwickelt haben,
Vielmehr in dem einen Drange nach Oben unentfaltet zusammenschließen, das
alle Dinge unter den Gesichtspunkt des Jenseits stellt und auch in das Auge
unvermerkt die Tendenz zur Höhe aufnimmt, um der zu erreichenden Erhaben¬
heit und Großartigkeit willen eine solche Vermischung der Künste vornimmt, ist


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[0354] Gefühl, welches unter all den subtilen scholastischen Untersuchungen lebendig arbeitete, bei den Einen freilich durch die überwuchernde Fülle von Formeln erstickt wurde, bei den Andern aber langsam die Fesseln abstreifte, um — in der Mystik des vierzehnten Jahrhunderts — zu freiester Bewegung hervorzutreten. Dies innige Verlangen nach höherem Lebensinhalte, nach unmittelbarer Fühlung des Unendlichen, das ist der positive Gesammtausdruck des gothischen Baues. nachdrücklich macht es unser Kritiker dem gothischen Stile zum Vorwurf, daß er, eben in seiner Verkennung architektonischer Gesetze, Zweck und Mittel für die Betrachtung auseinanderreiße. Vergeblich, sagt er etwa, suchen wir im Innern des Gebäudes nach ausreichend starken Widerlagern für die Ge¬ wölbe, und draußen stehend nach dem Zwecke der Strebepfeiler, die starrend, stemmend, steifend den ganzen Bau umstehen. Wir halten diese Wahrnehmung nicht für ganz richtig, und sie scheint auf Grund eines theoretischen Schlusses gemacht zu sein. Das Auge, von dem Schein des Organischen hingenommen, sieht gar nicht unter architektonischen Gesichtspunkten, erfüllt sich gar nicht mit der Voraussetzung der Last und des Seitenschubes, sondern hat im Innern den sich selbst unmittelbar erklärenden Anblick eines „steinernen Hochwaldes" (nach Hases Ausdruck), draußen den eines feierlich emporsteigenden Monumentes zur Ehre Gottes. Es ist wahr, daß der Zweck des einzelnen Strebepfeilers sich dem Auge verbirgt, aber es sucht ihn auch nicht, indem es dem ganzen Strebesystem die Bestimmung leiht, den ganzen mächtigen Bau zugleich kräftig zusammenzuhalten und dem Langhause eine dem Thurmbau analoge monumen¬ tale Gestalt zu geben. Uebrigens hört da jede Frage auf, wo der Strebepfeiler Postament, Rückwand und Dach für eine Statue abgiebt; da tritt er dem Auge als ein für sich Zweckmäßiges entgegen. Suchen wir den Inhalt aller dieser Wahrnehmungen in einen Ausdruck zusammenzufassen, so werden wir sagen müssen, daß die Gothik überhaupt nicht als bloße Architektur anzusprechen sei. Sie ist eine Mischung von Plastik und Architektur, nicht nur sofern ihre gesammte Ornamentik, ohne welche sie gar nicht zum Ausdruck kommt, wirklich bildhauerische Arbeit ist, sondern vor¬ züglich, sofern sie durch bauliche Mittel einen wenn auch noch so leichten Schein organischen Lebens hervorzubringen trachtet. Diesem ihrem innersten Streben zu Liebe verbirgt sie das Walten architektonischer Gesetze, deren auch sie nicht entrathen kann. Sie ist Plastik in freiesten, größten Formen; der Architektur entlehnt sie ihre Mittel, ohne es einzugestehen. Daß ein Geschlecht, dem sich die einzelnen geistigen Functionen noch nicht zur Selbständigkeit entwickelt haben, Vielmehr in dem einen Drange nach Oben unentfaltet zusammenschließen, das alle Dinge unter den Gesichtspunkt des Jenseits stellt und auch in das Auge unvermerkt die Tendenz zur Höhe aufnimmt, um der zu erreichenden Erhaben¬ heit und Großartigkeit willen eine solche Vermischung der Künste vornimmt, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/354>, abgerufen am 29.06.2024.