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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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neinung aus, nämlich ti" Verneinung des Irdischen durch die der Horizontal.
Es giebt aber auch der Bejahung des Himmlischen einen besonderen Nachdruck
und eine gewinnende Kraft der Ueberredung durch die Art, wie die Verticale
baulich sich darstellt. Julius Meyer will es tadeln, daß die Gothik den echt
architektonischen Gegensatz von Last und Kraft auszulöschen, wahre Verhältnisse
zu verhüllen strebe und über die Realität der Structur hinaus einen Schein
von Leichtigkeit hervorzubringen trachte. Wir behaupten, daß in diesen Dingen
das Geheimniß ihrer Wirkung beruhe, und daß darin ein echt künstlerisches
Princip walte. Das bloße Vorherrschen der verticalen Dimension, die bloß
winkelrechte Steigung allein würde verstimmend und beunruhigend, aber nicht
emporreißend wirken. Die Gothik aber überredet das Auge gewissermaßen, in
die Höhe zu gleiten, indem sie im Aufriß, außen an der Sohle, nirgends den
rechten Winkel duldet, sondern jede Verjüngung durch Abschrägungen vermittelt.
Sodann wird hier die Ornamentik wichtig. Die ausgebildete Gothik läßt
nirgends die bloße Zweckmäßigkeit und die bloße Absichtlichkeit gelten: sie ver-
birgt dem Auge beides, indem sie den Schein einer höheren Zweckmäßigkeit,
den Schein des Organischen hervorruft. Jedes Bauglied gemahnt an etwas
aus dem Boden Gewachsenes. Dieser Schein wird besonders dadurch hervor¬
gebracht, daß die emporstrebenden Glieder, Thurmhelm, Fialen. Wimbergen,
Giebel in Zierrathe sich abplatten, die der Natur nachgebildet sind, daß der
Schaft mit seinen Rippen und den sich abzweigenden Gewölbereihungen eine
Nachbildung des Baumes wird, daß endlich das Maßwerk selbst an pflanzen-
bafte Verschlingung erinnert. Hierzu kommt, daß die entwickelte Gothik überall
keine todte Mauermasse mehr duldet. Der ganze Bau besteht eigentlich, wie
auch Julius Meyer bemerkt, nur aus Säulenbündeln und.Streben. Das
Fenster- und Thürgewände soll sich unmittelbar an den Strebepfeiler an¬
schließen, jedes Glied soll so aufgelöst und zu freier organischer Form durch¬
gebildet sein, daß es seine Dienstleistung verbirgt und nicht durch Zweckmäßigkeit,
sondern durch Aehnlichkeit in das Ganze zu gehören scheint. Besonders charak-
teristisch ist der Thurm, in weichem der Gegensatz von Kraft und Last, wie er
sonst als Wand und Bedachung sich darstellt, vollkommen überwunden ist und
der wie ein aus sich selbst Emporstrebender vom Boden sich emporhebt. Gerade
aber in der liebevollen und feinen Durchführung des Einzelnen liegt der ge¬
winnende Zauber des gothischen Baues. Die bloße Verkörperung der gothischen
Grundregel, des " fürnehmsten Steinmetzengrundes" thuts nicht. Der Wirkung
der einfachen, nüchternen Gothik, die uns mit dem puren Spitzbogen und den
schmucklosen Streben Gewalt anthun will, entziehen wir uns leicht. Der reiche
gothische Dom aber -- und seiner Natur nach sollte der gothische Stil nur in
großen Dimensionen zur Anwendung kommen -- entbindet in dem Beschauer
ewe, wenn man will, mystische Sehnsucht. Diese war ja auch das bestimmende


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neinung aus, nämlich ti» Verneinung des Irdischen durch die der Horizontal.
Es giebt aber auch der Bejahung des Himmlischen einen besonderen Nachdruck
und eine gewinnende Kraft der Ueberredung durch die Art, wie die Verticale
baulich sich darstellt. Julius Meyer will es tadeln, daß die Gothik den echt
architektonischen Gegensatz von Last und Kraft auszulöschen, wahre Verhältnisse
zu verhüllen strebe und über die Realität der Structur hinaus einen Schein
von Leichtigkeit hervorzubringen trachte. Wir behaupten, daß in diesen Dingen
das Geheimniß ihrer Wirkung beruhe, und daß darin ein echt künstlerisches
Princip walte. Das bloße Vorherrschen der verticalen Dimension, die bloß
winkelrechte Steigung allein würde verstimmend und beunruhigend, aber nicht
emporreißend wirken. Die Gothik aber überredet das Auge gewissermaßen, in
die Höhe zu gleiten, indem sie im Aufriß, außen an der Sohle, nirgends den
rechten Winkel duldet, sondern jede Verjüngung durch Abschrägungen vermittelt.
Sodann wird hier die Ornamentik wichtig. Die ausgebildete Gothik läßt
nirgends die bloße Zweckmäßigkeit und die bloße Absichtlichkeit gelten: sie ver-
birgt dem Auge beides, indem sie den Schein einer höheren Zweckmäßigkeit,
den Schein des Organischen hervorruft. Jedes Bauglied gemahnt an etwas
aus dem Boden Gewachsenes. Dieser Schein wird besonders dadurch hervor¬
gebracht, daß die emporstrebenden Glieder, Thurmhelm, Fialen. Wimbergen,
Giebel in Zierrathe sich abplatten, die der Natur nachgebildet sind, daß der
Schaft mit seinen Rippen und den sich abzweigenden Gewölbereihungen eine
Nachbildung des Baumes wird, daß endlich das Maßwerk selbst an pflanzen-
bafte Verschlingung erinnert. Hierzu kommt, daß die entwickelte Gothik überall
keine todte Mauermasse mehr duldet. Der ganze Bau besteht eigentlich, wie
auch Julius Meyer bemerkt, nur aus Säulenbündeln und.Streben. Das
Fenster- und Thürgewände soll sich unmittelbar an den Strebepfeiler an¬
schließen, jedes Glied soll so aufgelöst und zu freier organischer Form durch¬
gebildet sein, daß es seine Dienstleistung verbirgt und nicht durch Zweckmäßigkeit,
sondern durch Aehnlichkeit in das Ganze zu gehören scheint. Besonders charak-
teristisch ist der Thurm, in weichem der Gegensatz von Kraft und Last, wie er
sonst als Wand und Bedachung sich darstellt, vollkommen überwunden ist und
der wie ein aus sich selbst Emporstrebender vom Boden sich emporhebt. Gerade
aber in der liebevollen und feinen Durchführung des Einzelnen liegt der ge¬
winnende Zauber des gothischen Baues. Die bloße Verkörperung der gothischen
Grundregel, des „ fürnehmsten Steinmetzengrundes" thuts nicht. Der Wirkung
der einfachen, nüchternen Gothik, die uns mit dem puren Spitzbogen und den
schmucklosen Streben Gewalt anthun will, entziehen wir uns leicht. Der reiche
gothische Dom aber — und seiner Natur nach sollte der gothische Stil nur in
großen Dimensionen zur Anwendung kommen — entbindet in dem Beschauer
ewe, wenn man will, mystische Sehnsucht. Diese war ja auch das bestimmende


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[0353] neinung aus, nämlich ti» Verneinung des Irdischen durch die der Horizontal. Es giebt aber auch der Bejahung des Himmlischen einen besonderen Nachdruck und eine gewinnende Kraft der Ueberredung durch die Art, wie die Verticale baulich sich darstellt. Julius Meyer will es tadeln, daß die Gothik den echt architektonischen Gegensatz von Last und Kraft auszulöschen, wahre Verhältnisse zu verhüllen strebe und über die Realität der Structur hinaus einen Schein von Leichtigkeit hervorzubringen trachte. Wir behaupten, daß in diesen Dingen das Geheimniß ihrer Wirkung beruhe, und daß darin ein echt künstlerisches Princip walte. Das bloße Vorherrschen der verticalen Dimension, die bloß winkelrechte Steigung allein würde verstimmend und beunruhigend, aber nicht emporreißend wirken. Die Gothik aber überredet das Auge gewissermaßen, in die Höhe zu gleiten, indem sie im Aufriß, außen an der Sohle, nirgends den rechten Winkel duldet, sondern jede Verjüngung durch Abschrägungen vermittelt. Sodann wird hier die Ornamentik wichtig. Die ausgebildete Gothik läßt nirgends die bloße Zweckmäßigkeit und die bloße Absichtlichkeit gelten: sie ver- birgt dem Auge beides, indem sie den Schein einer höheren Zweckmäßigkeit, den Schein des Organischen hervorruft. Jedes Bauglied gemahnt an etwas aus dem Boden Gewachsenes. Dieser Schein wird besonders dadurch hervor¬ gebracht, daß die emporstrebenden Glieder, Thurmhelm, Fialen. Wimbergen, Giebel in Zierrathe sich abplatten, die der Natur nachgebildet sind, daß der Schaft mit seinen Rippen und den sich abzweigenden Gewölbereihungen eine Nachbildung des Baumes wird, daß endlich das Maßwerk selbst an pflanzen- bafte Verschlingung erinnert. Hierzu kommt, daß die entwickelte Gothik überall keine todte Mauermasse mehr duldet. Der ganze Bau besteht eigentlich, wie auch Julius Meyer bemerkt, nur aus Säulenbündeln und.Streben. Das Fenster- und Thürgewände soll sich unmittelbar an den Strebepfeiler an¬ schließen, jedes Glied soll so aufgelöst und zu freier organischer Form durch¬ gebildet sein, daß es seine Dienstleistung verbirgt und nicht durch Zweckmäßigkeit, sondern durch Aehnlichkeit in das Ganze zu gehören scheint. Besonders charak- teristisch ist der Thurm, in weichem der Gegensatz von Kraft und Last, wie er sonst als Wand und Bedachung sich darstellt, vollkommen überwunden ist und der wie ein aus sich selbst Emporstrebender vom Boden sich emporhebt. Gerade aber in der liebevollen und feinen Durchführung des Einzelnen liegt der ge¬ winnende Zauber des gothischen Baues. Die bloße Verkörperung der gothischen Grundregel, des „ fürnehmsten Steinmetzengrundes" thuts nicht. Der Wirkung der einfachen, nüchternen Gothik, die uns mit dem puren Spitzbogen und den schmucklosen Streben Gewalt anthun will, entziehen wir uns leicht. Der reiche gothische Dom aber — und seiner Natur nach sollte der gothische Stil nur in großen Dimensionen zur Anwendung kommen — entbindet in dem Beschauer ewe, wenn man will, mystische Sehnsucht. Diese war ja auch das bestimmende 42*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/353>, abgerufen am 29.06.2024.