Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

durch Fialen unmittelbar in die Höhe geführt wird. An hundert Spitzen wird
der Blick von der Erde abgefangen und in den Aether übergeleitet. Im Innern
ruft die Construction des Gewölbes und seine Stützen dieselbe Wirkung hervor.
Hier fällt nur die Hälfte der tragenden Kraft ins Gesicht und Gefühl, die
andere Hälfte ist auf die Außenseite geworfen und repräsentut sich im Strebe¬
system. Der Rest von Lastempsindung aber wird ausgezehrt durch die Con¬
struction der Gewölbschäfte. Theils, nämlich ist durch sorgfältige Beobachtung
und Berechnung genau der Punkt ausgemittelt worden, welcher den Gewölb-
schub auffängt, und so löst sich der massige Pfeiler in ein schlankes Säulen¬
bündel auf; theils ruhen die Gewölbansätze nicht schwer lastend auf dem
Capitäl, sondern die Rippen scheinen aus den Schäften hervorzuwachsen, streben
aus einem Gesimse von Laubwerk empor oder gehen auch unmittelbar in die
Bogenlinie über, so daß das Capital ganz aufgelöst wird.

Es ist wahr, daß in diesem Grandiosen, wie Hegel sagt, der Einzelne
sich verliert. Der gothische Bau wirkt in höchstem Maße aufregend, und zur
ruhigen Betrachtung göttlicher Dinge in versammelter Gemeinde ist er nicht
geschaffen. Er treibt die Andächtigen, welche der romanische Bau vor den
Hochaltar gruppirte, in die vielen kleinen gesonderten Räume, in die Seiten¬
kapellen, in die Umgänge auseinander. Der Gläubige will von dem Ganzen
nur das Gefühl des Umfangenseins, zur Ausführung seiner Andacht bedarf er
der Beschränkung innerhalb der Größe. Das Jenseits muß sich ihm, wenn
es irgend zur Ruhe kommen will, in einer einzelnen vertrauten Gestalt reprä-
sentiren, die er mit seinen persönlichen Anliegen bekannt machen darf. Auch
in dieser Beziehung kommt der Stil nur einem Triebe seiner Zeit entgegen.
Man sollte die Fülle von Heiligen, welche sie hervorbrachte, nicht vornehm
belächeln: der Cultus individueller Heiligen ist die Vorschule lebendig persönlicher
Religiosität und die nothwendige Form für eine Zeit und eine Bildungsstufe,
welche noch ganz im Bildlichen besangen ist. Das innerste Gefühl ist aufgeregt.
Verlangen des Unendlichen ist da, aber da es dem Geiste noch jenseitig ist,
so schafft er sich selbst seine Staffeln, um es zu erklimmen. Der Mensch von
entwickeltem religiösen Bewußtsein hält die höchsten und niedrigsten Functionen
seines Lebens durch das nämliche Gottesgefühl von Innen zusammen, der
Mensch jener Periode bringt gleichsam von Außen die einzelnen Punkte seines
Lebens mit einzelnen Punkten der überirdischen Welt in Berührung: für die
einzelnen Nöthe des Tages hat er die verschiedenen Nothhelfer, für die zarteren
Bedürfnisse des Gemüthes die Mutter Gottes, für die ernste Frage der Selig¬
keit den Sohn Gottes, Gott selber als den Bürgen der Macht aller dieser
himmlischen Gestalten.

Gehen wir in der Charakteristik des gothischen Kirchenbaues einen Schritt
weiter. Er drückt, wie wir uns zuerst vergegenwärtigt haben, eine starke Ver-


durch Fialen unmittelbar in die Höhe geführt wird. An hundert Spitzen wird
der Blick von der Erde abgefangen und in den Aether übergeleitet. Im Innern
ruft die Construction des Gewölbes und seine Stützen dieselbe Wirkung hervor.
Hier fällt nur die Hälfte der tragenden Kraft ins Gesicht und Gefühl, die
andere Hälfte ist auf die Außenseite geworfen und repräsentut sich im Strebe¬
system. Der Rest von Lastempsindung aber wird ausgezehrt durch die Con¬
struction der Gewölbschäfte. Theils, nämlich ist durch sorgfältige Beobachtung
und Berechnung genau der Punkt ausgemittelt worden, welcher den Gewölb-
schub auffängt, und so löst sich der massige Pfeiler in ein schlankes Säulen¬
bündel auf; theils ruhen die Gewölbansätze nicht schwer lastend auf dem
Capitäl, sondern die Rippen scheinen aus den Schäften hervorzuwachsen, streben
aus einem Gesimse von Laubwerk empor oder gehen auch unmittelbar in die
Bogenlinie über, so daß das Capital ganz aufgelöst wird.

Es ist wahr, daß in diesem Grandiosen, wie Hegel sagt, der Einzelne
sich verliert. Der gothische Bau wirkt in höchstem Maße aufregend, und zur
ruhigen Betrachtung göttlicher Dinge in versammelter Gemeinde ist er nicht
geschaffen. Er treibt die Andächtigen, welche der romanische Bau vor den
Hochaltar gruppirte, in die vielen kleinen gesonderten Räume, in die Seiten¬
kapellen, in die Umgänge auseinander. Der Gläubige will von dem Ganzen
nur das Gefühl des Umfangenseins, zur Ausführung seiner Andacht bedarf er
der Beschränkung innerhalb der Größe. Das Jenseits muß sich ihm, wenn
es irgend zur Ruhe kommen will, in einer einzelnen vertrauten Gestalt reprä-
sentiren, die er mit seinen persönlichen Anliegen bekannt machen darf. Auch
in dieser Beziehung kommt der Stil nur einem Triebe seiner Zeit entgegen.
Man sollte die Fülle von Heiligen, welche sie hervorbrachte, nicht vornehm
belächeln: der Cultus individueller Heiligen ist die Vorschule lebendig persönlicher
Religiosität und die nothwendige Form für eine Zeit und eine Bildungsstufe,
welche noch ganz im Bildlichen besangen ist. Das innerste Gefühl ist aufgeregt.
Verlangen des Unendlichen ist da, aber da es dem Geiste noch jenseitig ist,
so schafft er sich selbst seine Staffeln, um es zu erklimmen. Der Mensch von
entwickeltem religiösen Bewußtsein hält die höchsten und niedrigsten Functionen
seines Lebens durch das nämliche Gottesgefühl von Innen zusammen, der
Mensch jener Periode bringt gleichsam von Außen die einzelnen Punkte seines
Lebens mit einzelnen Punkten der überirdischen Welt in Berührung: für die
einzelnen Nöthe des Tages hat er die verschiedenen Nothhelfer, für die zarteren
Bedürfnisse des Gemüthes die Mutter Gottes, für die ernste Frage der Selig¬
keit den Sohn Gottes, Gott selber als den Bürgen der Macht aller dieser
himmlischen Gestalten.

Gehen wir in der Charakteristik des gothischen Kirchenbaues einen Schritt
weiter. Er drückt, wie wir uns zuerst vergegenwärtigt haben, eine starke Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283149"/>
          <p xml:id="ID_1124" prev="#ID_1123"> durch Fialen unmittelbar in die Höhe geführt wird. An hundert Spitzen wird<lb/>
der Blick von der Erde abgefangen und in den Aether übergeleitet. Im Innern<lb/>
ruft die Construction des Gewölbes und seine Stützen dieselbe Wirkung hervor.<lb/>
Hier fällt nur die Hälfte der tragenden Kraft ins Gesicht und Gefühl, die<lb/>
andere Hälfte ist auf die Außenseite geworfen und repräsentut sich im Strebe¬<lb/>
system. Der Rest von Lastempsindung aber wird ausgezehrt durch die Con¬<lb/>
struction der Gewölbschäfte. Theils, nämlich ist durch sorgfältige Beobachtung<lb/>
und Berechnung genau der Punkt ausgemittelt worden, welcher den Gewölb-<lb/>
schub auffängt, und so löst sich der massige Pfeiler in ein schlankes Säulen¬<lb/>
bündel auf; theils ruhen die Gewölbansätze nicht schwer lastend auf dem<lb/>
Capitäl, sondern die Rippen scheinen aus den Schäften hervorzuwachsen, streben<lb/>
aus einem Gesimse von Laubwerk empor oder gehen auch unmittelbar in die<lb/>
Bogenlinie über, so daß das Capital ganz aufgelöst wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1125"> Es ist wahr, daß in diesem Grandiosen, wie Hegel sagt, der Einzelne<lb/>
sich verliert. Der gothische Bau wirkt in höchstem Maße aufregend, und zur<lb/>
ruhigen Betrachtung göttlicher Dinge in versammelter Gemeinde ist er nicht<lb/>
geschaffen. Er treibt die Andächtigen, welche der romanische Bau vor den<lb/>
Hochaltar gruppirte, in die vielen kleinen gesonderten Räume, in die Seiten¬<lb/>
kapellen, in die Umgänge auseinander. Der Gläubige will von dem Ganzen<lb/>
nur das Gefühl des Umfangenseins, zur Ausführung seiner Andacht bedarf er<lb/>
der Beschränkung innerhalb der Größe. Das Jenseits muß sich ihm, wenn<lb/>
es irgend zur Ruhe kommen will, in einer einzelnen vertrauten Gestalt reprä-<lb/>
sentiren, die er mit seinen persönlichen Anliegen bekannt machen darf. Auch<lb/>
in dieser Beziehung kommt der Stil nur einem Triebe seiner Zeit entgegen.<lb/>
Man sollte die Fülle von Heiligen, welche sie hervorbrachte, nicht vornehm<lb/>
belächeln: der Cultus individueller Heiligen ist die Vorschule lebendig persönlicher<lb/>
Religiosität und die nothwendige Form für eine Zeit und eine Bildungsstufe,<lb/>
welche noch ganz im Bildlichen besangen ist. Das innerste Gefühl ist aufgeregt.<lb/>
Verlangen des Unendlichen ist da, aber da es dem Geiste noch jenseitig ist,<lb/>
so schafft er sich selbst seine Staffeln, um es zu erklimmen. Der Mensch von<lb/>
entwickeltem religiösen Bewußtsein hält die höchsten und niedrigsten Functionen<lb/>
seines Lebens durch das nämliche Gottesgefühl von Innen zusammen, der<lb/>
Mensch jener Periode bringt gleichsam von Außen die einzelnen Punkte seines<lb/>
Lebens mit einzelnen Punkten der überirdischen Welt in Berührung: für die<lb/>
einzelnen Nöthe des Tages hat er die verschiedenen Nothhelfer, für die zarteren<lb/>
Bedürfnisse des Gemüthes die Mutter Gottes, für die ernste Frage der Selig¬<lb/>
keit den Sohn Gottes, Gott selber als den Bürgen der Macht aller dieser<lb/>
himmlischen Gestalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1126" next="#ID_1127"> Gehen wir in der Charakteristik des gothischen Kirchenbaues einen Schritt<lb/>
weiter. Er drückt, wie wir uns zuerst vergegenwärtigt haben, eine starke Ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0352] durch Fialen unmittelbar in die Höhe geführt wird. An hundert Spitzen wird der Blick von der Erde abgefangen und in den Aether übergeleitet. Im Innern ruft die Construction des Gewölbes und seine Stützen dieselbe Wirkung hervor. Hier fällt nur die Hälfte der tragenden Kraft ins Gesicht und Gefühl, die andere Hälfte ist auf die Außenseite geworfen und repräsentut sich im Strebe¬ system. Der Rest von Lastempsindung aber wird ausgezehrt durch die Con¬ struction der Gewölbschäfte. Theils, nämlich ist durch sorgfältige Beobachtung und Berechnung genau der Punkt ausgemittelt worden, welcher den Gewölb- schub auffängt, und so löst sich der massige Pfeiler in ein schlankes Säulen¬ bündel auf; theils ruhen die Gewölbansätze nicht schwer lastend auf dem Capitäl, sondern die Rippen scheinen aus den Schäften hervorzuwachsen, streben aus einem Gesimse von Laubwerk empor oder gehen auch unmittelbar in die Bogenlinie über, so daß das Capital ganz aufgelöst wird. Es ist wahr, daß in diesem Grandiosen, wie Hegel sagt, der Einzelne sich verliert. Der gothische Bau wirkt in höchstem Maße aufregend, und zur ruhigen Betrachtung göttlicher Dinge in versammelter Gemeinde ist er nicht geschaffen. Er treibt die Andächtigen, welche der romanische Bau vor den Hochaltar gruppirte, in die vielen kleinen gesonderten Räume, in die Seiten¬ kapellen, in die Umgänge auseinander. Der Gläubige will von dem Ganzen nur das Gefühl des Umfangenseins, zur Ausführung seiner Andacht bedarf er der Beschränkung innerhalb der Größe. Das Jenseits muß sich ihm, wenn es irgend zur Ruhe kommen will, in einer einzelnen vertrauten Gestalt reprä- sentiren, die er mit seinen persönlichen Anliegen bekannt machen darf. Auch in dieser Beziehung kommt der Stil nur einem Triebe seiner Zeit entgegen. Man sollte die Fülle von Heiligen, welche sie hervorbrachte, nicht vornehm belächeln: der Cultus individueller Heiligen ist die Vorschule lebendig persönlicher Religiosität und die nothwendige Form für eine Zeit und eine Bildungsstufe, welche noch ganz im Bildlichen besangen ist. Das innerste Gefühl ist aufgeregt. Verlangen des Unendlichen ist da, aber da es dem Geiste noch jenseitig ist, so schafft er sich selbst seine Staffeln, um es zu erklimmen. Der Mensch von entwickeltem religiösen Bewußtsein hält die höchsten und niedrigsten Functionen seines Lebens durch das nämliche Gottesgefühl von Innen zusammen, der Mensch jener Periode bringt gleichsam von Außen die einzelnen Punkte seines Lebens mit einzelnen Punkten der überirdischen Welt in Berührung: für die einzelnen Nöthe des Tages hat er die verschiedenen Nothhelfer, für die zarteren Bedürfnisse des Gemüthes die Mutter Gottes, für die ernste Frage der Selig¬ keit den Sohn Gottes, Gott selber als den Bürgen der Macht aller dieser himmlischen Gestalten. Gehen wir in der Charakteristik des gothischen Kirchenbaues einen Schritt weiter. Er drückt, wie wir uns zuerst vergegenwärtigt haben, eine starke Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/352
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/352>, abgerufen am 29.06.2024.