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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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nicht möglich, so bildete sich von selbst die Praxis der Bußablösungen und des
Ablasses. Idealismus und Naturtrieb traten noch räumlich neben einander auf,
mit einander gelegentlich kämpfend, gelegentlich compromittirend. gelegentlich
auch einander betrügend. Genug, wenn die Mönche die drei schweren Gelübde
anerkannten, wenn die Geistlichkeit sich zum Cölibat verpflichtete, wenn in Kreuz¬
fahrten. Pilgerschaften und Bußen das strenge Recht des Himmels beglaubigt
wurde: im. Uebrigen lebte dies Geschlecht in trotzigem Lebensmuth dahin und
genoß gerade jetzt seine Flegeljahre. Der unbedingte Werth des Geistes war
doch zur Anerkennung gekommen. Schlimm war nur, daß gerade in den
größten und allgemeinsten Beziehungen dieser abstracte Idealismus sich am
weitesten durchsetzte, in dem Verhältnisse nämlich zwischen Reich und Kirche;
aber dies war natürlich, weil das persönliche Leben nicht so unmittelbar da¬
durch berührt wurde.

Der architektonische Ausdruck für die bewußt idealistische Stimmung des
Zeitalters ist der gothische Bau. Wir werden alle wesentlichen Elemente,
welche seine geistige Welt constituiren, im gothischen Stile wiederfinden.

Die Cistercienser begründeten und verbreiteten die neue Bauweise. Sie
verliehen ihr die strenge Herbigkeit eines ernst gemeinten Idealiemus. Wie die
Regel von Citeaux selbst im entschiedensten Gegensatze gegen das Leben der
schwelgerischen und verweltlichten Cluniacenser festgesetzt war, so stellte sich der
immer prunkhafter werdenden, mit immer dunkeler Fülle die Sinne berücken¬
den Bauart, welche sie übten, der ernste von der Erde emporstrebende Spitz¬
bogen entgegen. Die Passivität des Geistes war zu groß geworden; über ein
behagliches Anschauen, ein angenehmes Genießen kam man kaum hinaus, und
die Kirche bot dieser Stimmung immer reichere Nahrung. "Was wird in all
diesen Dingen gesucht?" schreibt Bernhard von Clairvaux an den Cluniaccnser-
abt von Se. Thierry, "die Zerknirschung der Bereuenden oder die Bewunderung
der Anschauenden? O Eitelkeit der Eitelkeiten, aber nicht mehr eitel als un¬
sinnig!" Das ist der Gegensatz: dort anschauende Bewunderung, der es nicht einfällt,
die Seele, den Punkt, wo die Sünde wächst und das Heil wurzelt, in Mitleiden¬
schaft zu ziehen, hier bewußte Abkehr vom Irdischen. Streben ins Jenseitige.
Begeisterung für alle Aufgaben, in denen die obere Welt zu reden scheint.
Baulich verkörpert drückt sich diese Stimmung als Ueberwindung der Horizontale,
als allgemeiner Sieg der steigenden Tendenz aus. An diesen schlanken Bild¬
ungen wird das Auge mit Gewalt emporgerissen, unwillkürlich strebt es noch
über die höchsten Spitzen hinaus, und indem die Gedanken ihm folgen, lassen
sie den Beschauer selbst in verlorener Kleinheit zurück. Die Wirkung wird im
Außenbau durch die durchgeführte Verjüngung, durch den Spitzbogen und da¬
durch hervorgebracht, daß selbst von den nothwendigen Horizontalabschlüssen
das Auge durch Wasserschläge wieder an den höherstrebenden Hauptkörper oder


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nicht möglich, so bildete sich von selbst die Praxis der Bußablösungen und des
Ablasses. Idealismus und Naturtrieb traten noch räumlich neben einander auf,
mit einander gelegentlich kämpfend, gelegentlich compromittirend. gelegentlich
auch einander betrügend. Genug, wenn die Mönche die drei schweren Gelübde
anerkannten, wenn die Geistlichkeit sich zum Cölibat verpflichtete, wenn in Kreuz¬
fahrten. Pilgerschaften und Bußen das strenge Recht des Himmels beglaubigt
wurde: im. Uebrigen lebte dies Geschlecht in trotzigem Lebensmuth dahin und
genoß gerade jetzt seine Flegeljahre. Der unbedingte Werth des Geistes war
doch zur Anerkennung gekommen. Schlimm war nur, daß gerade in den
größten und allgemeinsten Beziehungen dieser abstracte Idealismus sich am
weitesten durchsetzte, in dem Verhältnisse nämlich zwischen Reich und Kirche;
aber dies war natürlich, weil das persönliche Leben nicht so unmittelbar da¬
durch berührt wurde.

Der architektonische Ausdruck für die bewußt idealistische Stimmung des
Zeitalters ist der gothische Bau. Wir werden alle wesentlichen Elemente,
welche seine geistige Welt constituiren, im gothischen Stile wiederfinden.

Die Cistercienser begründeten und verbreiteten die neue Bauweise. Sie
verliehen ihr die strenge Herbigkeit eines ernst gemeinten Idealiemus. Wie die
Regel von Citeaux selbst im entschiedensten Gegensatze gegen das Leben der
schwelgerischen und verweltlichten Cluniacenser festgesetzt war, so stellte sich der
immer prunkhafter werdenden, mit immer dunkeler Fülle die Sinne berücken¬
den Bauart, welche sie übten, der ernste von der Erde emporstrebende Spitz¬
bogen entgegen. Die Passivität des Geistes war zu groß geworden; über ein
behagliches Anschauen, ein angenehmes Genießen kam man kaum hinaus, und
die Kirche bot dieser Stimmung immer reichere Nahrung. „Was wird in all
diesen Dingen gesucht?" schreibt Bernhard von Clairvaux an den Cluniaccnser-
abt von Se. Thierry, „die Zerknirschung der Bereuenden oder die Bewunderung
der Anschauenden? O Eitelkeit der Eitelkeiten, aber nicht mehr eitel als un¬
sinnig!" Das ist der Gegensatz: dort anschauende Bewunderung, der es nicht einfällt,
die Seele, den Punkt, wo die Sünde wächst und das Heil wurzelt, in Mitleiden¬
schaft zu ziehen, hier bewußte Abkehr vom Irdischen. Streben ins Jenseitige.
Begeisterung für alle Aufgaben, in denen die obere Welt zu reden scheint.
Baulich verkörpert drückt sich diese Stimmung als Ueberwindung der Horizontale,
als allgemeiner Sieg der steigenden Tendenz aus. An diesen schlanken Bild¬
ungen wird das Auge mit Gewalt emporgerissen, unwillkürlich strebt es noch
über die höchsten Spitzen hinaus, und indem die Gedanken ihm folgen, lassen
sie den Beschauer selbst in verlorener Kleinheit zurück. Die Wirkung wird im
Außenbau durch die durchgeführte Verjüngung, durch den Spitzbogen und da¬
durch hervorgebracht, daß selbst von den nothwendigen Horizontalabschlüssen
das Auge durch Wasserschläge wieder an den höherstrebenden Hauptkörper oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/351>, abgerufen am 29.06.2024.