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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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der verlaufenen Periode festgestellt -- sondern zu begreifen, wie die berichteten
Thatsachen sich vollzogen haben konnten. Auch die Kirchenväter hatten den
ihnen mitgetheilten Stoff schon unter gewisse Gesichtspunkte gestellt, indem sie
zwischen diesseitigen Ereignissen und jenseitigen Gewalten einen Zusamenhang
zu begründen versuchten, aber es war ihnen nicht beigekommen zu fragen, ob
die einzelnen Schürzungen die Anwendung der Kategorien des Verstandes er¬
trügen. Ein Resultat der positiven Thätigkeit der Patristischen Kirche war z. B.
die Behauptung des Transsuvstantiation. Die folgende Zeit übernahm sie
gläubig, stellte aber die Frage: wie kann es geschehen, daß Brod und Wein
alle ihre äußeren Eigenschaften behalten und doch Fleisch und Blut geworden
sind? und gab die Urwort: Gott, als die primäre Ursache, vermag wohl für
eine secundäre Ursache einzutreten und die. Accidentien des Brodes und Weins
zu erhalten, während ihre Substanz sich verwandelt. Man sieht, wie weit
diese Art zu untersuchen von einer principiellen, aus der Tiefe der Menschen¬
natur und aus der unbefangenen Naturbetrachtung beginnenden Philosophie
entfernt ist. Und doch war kein Zeitalter stolzer, freudiger in seiner Aufklärungs¬
thätigkeit als das scholastische. Und wenn man jetzt zwar die Scholastik nicht
als Philosophie gelten lassen will, weil sie überall dem Einsehen das Glauben
vorausgehen ließ, so darf man doch den Fortschritt nicht unterschätzen, den
jenes Geschlecht machte, indem es so zu denken anfing. Denn worin bestand
eigentlich der sich vollziehende Proceß? Offenbar darin, daß sich im Geiste,
wennschon dessen größerer Raum, so zu sagen, noch vom christlichen Glauben
eingenommen war, eine Summe von Erkenntnissen abgelagert hatte, die nicht
aus dem Christenthum stammten, sondern aus den Alten, vorab aus dem
Aristoteles, und aus einer Art von Naturbetrachtung, und daß von diesen
Kenntnissen aus der Glaube nicht geprüft zwar, aber betrachtet wurde. Das
Verhältniß beider geistigen Mächte konnte zunächst nur ein gegenseitig bejahen¬
des sein. Wir wissen, daß es später ein neutrales wurde, da denn der Geist
glaubte zwei verschiedene Wahrheiten, die philosophische und die theologische,
nebeneinander beherbergen zu können, und daß endlich im fünfzehnten Jahr¬
hundert die Philosophie, nachdem sie sich mit classischer Bildung verbündet
hatte, den Sieg davontrug.

Jetzt aber sproßte überall reichstes Leben hervor. In der Periode der un¬
vermittelter Objectivität des Mythus hatte sich der Geist in allen Beziehungen
"ur receptiv Verhalten; sowie der Mensch aber beginnt, sich den Mythus im Wege
Verstandes zu vermitteln, verwandelt sich auch die stumme Hingebung des
^uschauens in ein lebendiges Schaffen der Phantasie. Der übernommene
Stoff wird flüssig, künstlerisch bildsam, und mit dem ersten Dmkversuche ist
"und die schöpferische Kraft des Menschen entbunden. Es regt sich etwas in
^>n, das den auf ihn einwirkenden Dingen antwortet. Die Kraft der


der verlaufenen Periode festgestellt — sondern zu begreifen, wie die berichteten
Thatsachen sich vollzogen haben konnten. Auch die Kirchenväter hatten den
ihnen mitgetheilten Stoff schon unter gewisse Gesichtspunkte gestellt, indem sie
zwischen diesseitigen Ereignissen und jenseitigen Gewalten einen Zusamenhang
zu begründen versuchten, aber es war ihnen nicht beigekommen zu fragen, ob
die einzelnen Schürzungen die Anwendung der Kategorien des Verstandes er¬
trügen. Ein Resultat der positiven Thätigkeit der Patristischen Kirche war z. B.
die Behauptung des Transsuvstantiation. Die folgende Zeit übernahm sie
gläubig, stellte aber die Frage: wie kann es geschehen, daß Brod und Wein
alle ihre äußeren Eigenschaften behalten und doch Fleisch und Blut geworden
sind? und gab die Urwort: Gott, als die primäre Ursache, vermag wohl für
eine secundäre Ursache einzutreten und die. Accidentien des Brodes und Weins
zu erhalten, während ihre Substanz sich verwandelt. Man sieht, wie weit
diese Art zu untersuchen von einer principiellen, aus der Tiefe der Menschen¬
natur und aus der unbefangenen Naturbetrachtung beginnenden Philosophie
entfernt ist. Und doch war kein Zeitalter stolzer, freudiger in seiner Aufklärungs¬
thätigkeit als das scholastische. Und wenn man jetzt zwar die Scholastik nicht
als Philosophie gelten lassen will, weil sie überall dem Einsehen das Glauben
vorausgehen ließ, so darf man doch den Fortschritt nicht unterschätzen, den
jenes Geschlecht machte, indem es so zu denken anfing. Denn worin bestand
eigentlich der sich vollziehende Proceß? Offenbar darin, daß sich im Geiste,
wennschon dessen größerer Raum, so zu sagen, noch vom christlichen Glauben
eingenommen war, eine Summe von Erkenntnissen abgelagert hatte, die nicht
aus dem Christenthum stammten, sondern aus den Alten, vorab aus dem
Aristoteles, und aus einer Art von Naturbetrachtung, und daß von diesen
Kenntnissen aus der Glaube nicht geprüft zwar, aber betrachtet wurde. Das
Verhältniß beider geistigen Mächte konnte zunächst nur ein gegenseitig bejahen¬
des sein. Wir wissen, daß es später ein neutrales wurde, da denn der Geist
glaubte zwei verschiedene Wahrheiten, die philosophische und die theologische,
nebeneinander beherbergen zu können, und daß endlich im fünfzehnten Jahr¬
hundert die Philosophie, nachdem sie sich mit classischer Bildung verbündet
hatte, den Sieg davontrug.

Jetzt aber sproßte überall reichstes Leben hervor. In der Periode der un¬
vermittelter Objectivität des Mythus hatte sich der Geist in allen Beziehungen
"ur receptiv Verhalten; sowie der Mensch aber beginnt, sich den Mythus im Wege
Verstandes zu vermitteln, verwandelt sich auch die stumme Hingebung des
^uschauens in ein lebendiges Schaffen der Phantasie. Der übernommene
Stoff wird flüssig, künstlerisch bildsam, und mit dem ersten Dmkversuche ist
"und die schöpferische Kraft des Menschen entbunden. Es regt sich etwas in
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[0349] der verlaufenen Periode festgestellt — sondern zu begreifen, wie die berichteten Thatsachen sich vollzogen haben konnten. Auch die Kirchenväter hatten den ihnen mitgetheilten Stoff schon unter gewisse Gesichtspunkte gestellt, indem sie zwischen diesseitigen Ereignissen und jenseitigen Gewalten einen Zusamenhang zu begründen versuchten, aber es war ihnen nicht beigekommen zu fragen, ob die einzelnen Schürzungen die Anwendung der Kategorien des Verstandes er¬ trügen. Ein Resultat der positiven Thätigkeit der Patristischen Kirche war z. B. die Behauptung des Transsuvstantiation. Die folgende Zeit übernahm sie gläubig, stellte aber die Frage: wie kann es geschehen, daß Brod und Wein alle ihre äußeren Eigenschaften behalten und doch Fleisch und Blut geworden sind? und gab die Urwort: Gott, als die primäre Ursache, vermag wohl für eine secundäre Ursache einzutreten und die. Accidentien des Brodes und Weins zu erhalten, während ihre Substanz sich verwandelt. Man sieht, wie weit diese Art zu untersuchen von einer principiellen, aus der Tiefe der Menschen¬ natur und aus der unbefangenen Naturbetrachtung beginnenden Philosophie entfernt ist. Und doch war kein Zeitalter stolzer, freudiger in seiner Aufklärungs¬ thätigkeit als das scholastische. Und wenn man jetzt zwar die Scholastik nicht als Philosophie gelten lassen will, weil sie überall dem Einsehen das Glauben vorausgehen ließ, so darf man doch den Fortschritt nicht unterschätzen, den jenes Geschlecht machte, indem es so zu denken anfing. Denn worin bestand eigentlich der sich vollziehende Proceß? Offenbar darin, daß sich im Geiste, wennschon dessen größerer Raum, so zu sagen, noch vom christlichen Glauben eingenommen war, eine Summe von Erkenntnissen abgelagert hatte, die nicht aus dem Christenthum stammten, sondern aus den Alten, vorab aus dem Aristoteles, und aus einer Art von Naturbetrachtung, und daß von diesen Kenntnissen aus der Glaube nicht geprüft zwar, aber betrachtet wurde. Das Verhältniß beider geistigen Mächte konnte zunächst nur ein gegenseitig bejahen¬ des sein. Wir wissen, daß es später ein neutrales wurde, da denn der Geist glaubte zwei verschiedene Wahrheiten, die philosophische und die theologische, nebeneinander beherbergen zu können, und daß endlich im fünfzehnten Jahr¬ hundert die Philosophie, nachdem sie sich mit classischer Bildung verbündet hatte, den Sieg davontrug. Jetzt aber sproßte überall reichstes Leben hervor. In der Periode der un¬ vermittelter Objectivität des Mythus hatte sich der Geist in allen Beziehungen "ur receptiv Verhalten; sowie der Mensch aber beginnt, sich den Mythus im Wege Verstandes zu vermitteln, verwandelt sich auch die stumme Hingebung des ^uschauens in ein lebendiges Schaffen der Phantasie. Der übernommene Stoff wird flüssig, künstlerisch bildsam, und mit dem ersten Dmkversuche ist "und die schöpferische Kraft des Menschen entbunden. Es regt sich etwas in ^>n, das den auf ihn einwirkenden Dingen antwortet. Die Kraft der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/349>, abgerufen am 29.06.2024.