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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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sondern suchte sich vorstellig zu machen, wie die Erlösung der Seele, nämlich
ihr Herüberreißen in das Gottcsreich objectiv vor sich gehen könne, wenn ein
Recht des Teufels auf den Menschen ("nach einem Rechte." sagt Gregor der
Große, "besaß der Teufel die Menschen"), die Gerechtigkeit und Heiligkeit
Gottes, die Unfähigkeit des Menschen zur Genugthuung. die Göttlichkeit Jesu
und sein Tod feststehe. Innerhalb dieser gegebenen Punkte wurden alle nur
möglichen Combinationen versucht, selbst die Vorstellung einer Ueberlistung
des berechtigten Teufels .durch die Maske der Menschheit, welche Jesus an¬
genommen , blieb nicht ausgeschlossen. Aber alles wurde in nackter Thatsächlich¬
st gefaßt, und in die Seele des Menschen trat der Zwiespalt, um dessen
Lösung es sich handelte, kaum hinein. Wie der Sündenfall ein einmal vor¬
gefallenes Factum mit gewissen historisch eingetretenen unglücklichen Folgen war.
so wurde auch die Erlösung zunächst nur in ihrer äußeren Thatsächlichkeit gefaßt,
und beide Ereignisse standen zueinander im Verhältnisse eines, man möchte
sagen quantitativen Gleichgewichts. Die Moral ergab sich erst am Ende einer
langen Erwägung factischer Zusammenhänge als eine durch Schlüsse gefundene
Nothwendigkeit. Die Frage in allen diesen theologischen Untersuchungen war
nicht: Wie gelangen wir zum Heil? sondern; Wie stellte Gott den Schaden,
den sein Reich erlitten, wieder her? und einen Schritt weiter: Warum wurde
Gott Mensch? Selbst als die Betrachtung den Teufel aus dem Spiele zu lassen
anfing, das ganze Erlösungswerk auf Gott zurückbezog und lediglich aus dessen
Eigenschaften zu begreifen versuchte, fand man den Grund der Menschwerdung
Gottes nur in der logischen Unmöglichkeit, eine Schuld zu bezahlen, wenn die
Gelegenheit, über das tägliche Bedürfniß hinaus ein Mehr zu machen, schlech¬
terdings nicht vorhanden war. Den Grund der Menschwerdung des Menschen
aber -- denn man mußte sich ja erst sein Leben beweisen, ehe man es hinnahm
fand man in der Nothwendigkeit, die Lücke, welche der Fall der Engel in
das nach Zahl und Maß so schön geordnete Weltganze gerissen, durch Geschöpfe
auszufüllen, die vor den Engeln den Vorzug hatten, wiederherstellbar zu sein.
Ueberall Stellvertretung, nirgends unmittelbares Selbstgefühl. Die Engel sind
für die Ausfüllung einer bestimmten Ziffer da. die Menschen treten für die
Engel ein. Christus für die Menschen, und Gott tritt gewissermaßen für sich
selbst ein; denn der Gott der Liebe hat den der Gerechtigkeit erst vollauf zu
bezahlen, ehe er er selber sein darf. Die Seele quält sich viel weniger um
ihre Sünde, als um die Schwierigkeiten, aus welchen sich dieser höchst eigen¬
sinnige und höchst rücksichtsvolle Gott herauszuwinden hat.

Wie wird sich bei solcher Anschauungsweise die Kirche gestalten? Als Ge¬
meinde jedenfalls nicht, denn diese setzt die spontane Thätigkeit des Einzelnen
voraus. Offenbar nur als Anstalt zur Sicherung der segensreichen Folgen des
objectiv vollzogenen Erlösungswerkes für den Menschen kann sie in die Er-


sondern suchte sich vorstellig zu machen, wie die Erlösung der Seele, nämlich
ihr Herüberreißen in das Gottcsreich objectiv vor sich gehen könne, wenn ein
Recht des Teufels auf den Menschen („nach einem Rechte." sagt Gregor der
Große, „besaß der Teufel die Menschen"), die Gerechtigkeit und Heiligkeit
Gottes, die Unfähigkeit des Menschen zur Genugthuung. die Göttlichkeit Jesu
und sein Tod feststehe. Innerhalb dieser gegebenen Punkte wurden alle nur
möglichen Combinationen versucht, selbst die Vorstellung einer Ueberlistung
des berechtigten Teufels .durch die Maske der Menschheit, welche Jesus an¬
genommen , blieb nicht ausgeschlossen. Aber alles wurde in nackter Thatsächlich¬
st gefaßt, und in die Seele des Menschen trat der Zwiespalt, um dessen
Lösung es sich handelte, kaum hinein. Wie der Sündenfall ein einmal vor¬
gefallenes Factum mit gewissen historisch eingetretenen unglücklichen Folgen war.
so wurde auch die Erlösung zunächst nur in ihrer äußeren Thatsächlichkeit gefaßt,
und beide Ereignisse standen zueinander im Verhältnisse eines, man möchte
sagen quantitativen Gleichgewichts. Die Moral ergab sich erst am Ende einer
langen Erwägung factischer Zusammenhänge als eine durch Schlüsse gefundene
Nothwendigkeit. Die Frage in allen diesen theologischen Untersuchungen war
nicht: Wie gelangen wir zum Heil? sondern; Wie stellte Gott den Schaden,
den sein Reich erlitten, wieder her? und einen Schritt weiter: Warum wurde
Gott Mensch? Selbst als die Betrachtung den Teufel aus dem Spiele zu lassen
anfing, das ganze Erlösungswerk auf Gott zurückbezog und lediglich aus dessen
Eigenschaften zu begreifen versuchte, fand man den Grund der Menschwerdung
Gottes nur in der logischen Unmöglichkeit, eine Schuld zu bezahlen, wenn die
Gelegenheit, über das tägliche Bedürfniß hinaus ein Mehr zu machen, schlech¬
terdings nicht vorhanden war. Den Grund der Menschwerdung des Menschen
aber — denn man mußte sich ja erst sein Leben beweisen, ehe man es hinnahm
fand man in der Nothwendigkeit, die Lücke, welche der Fall der Engel in
das nach Zahl und Maß so schön geordnete Weltganze gerissen, durch Geschöpfe
auszufüllen, die vor den Engeln den Vorzug hatten, wiederherstellbar zu sein.
Ueberall Stellvertretung, nirgends unmittelbares Selbstgefühl. Die Engel sind
für die Ausfüllung einer bestimmten Ziffer da. die Menschen treten für die
Engel ein. Christus für die Menschen, und Gott tritt gewissermaßen für sich
selbst ein; denn der Gott der Liebe hat den der Gerechtigkeit erst vollauf zu
bezahlen, ehe er er selber sein darf. Die Seele quält sich viel weniger um
ihre Sünde, als um die Schwierigkeiten, aus welchen sich dieser höchst eigen¬
sinnige und höchst rücksichtsvolle Gott herauszuwinden hat.

Wie wird sich bei solcher Anschauungsweise die Kirche gestalten? Als Ge¬
meinde jedenfalls nicht, denn diese setzt die spontane Thätigkeit des Einzelnen
voraus. Offenbar nur als Anstalt zur Sicherung der segensreichen Folgen des
objectiv vollzogenen Erlösungswerkes für den Menschen kann sie in die Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/347>, abgerufen am 29.06.2024.