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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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gehenden Stimmung und Anschauung begreifen. In die Reihe dieser Er¬
scheinungen gehört die Gothik. Wo immer sie entstand oder zumeist ausgebildet
wurde, sie kam einem allgemeinen Bedürfnisse entgegen und übte da, wohin
sie im Bereiche der christlichen Welt übertragen wurde, keinerlei Zwang aus,
sondern wurde als das.wahrhaftige Gegenbild des eigenen ins Bewußtsein
Dringenden Lebensinhaltes ausgenommen und verstanden. Und wurde nur aus¬
geschmückt mit den heimischen Blattern und Blüthen, die denn doch noch hier
und da aus dem Boden hervortricben, den die römischen Colonen so tief durch¬
ackert und mit so fremdartiger Saat bestellt hatten.

So haben wir die Gothik als ein nothwendiges Glied in unsere Ent¬
wickelungsreihe zu stellen, so gut wie wir die Gothik des Gedankens, die
Scholastik, als unser anerkennen müssen, obschon sie auch von Frankreich zu
uns kam. Unser Geist hat diese Formen sich zueigen gemacht, hat sie fortent¬
wickelt und verwandelt und hat ihre Motive als ein unveräußerliches Fidei-
commiß in sich aufgenommen. Bon der Gothik zu reden, so zeigt der Bau
unserer Bürgerhäuser noch bis auf den heutigen Tag ihre unvermerkt wirkenden
Einflüsse. Und wäre das in keinem Sinne unser, was wir gemeinschaftlich
mit Andern besaßen? Wäre es unsere geschichtliche Aufgabe gewesen, seit wir
aus dieser Allgemeinheit zu gesonderter Existenz mit besonderen Zielen heraus¬
traten, die Formen, welche unsere mittelalterliche Vergangenheit uns angebildet
hatte, einfach abzustreifen, wie man lästige Fesseln von sich schleudert? Wäre
das Entwickelung? Daß in der That eine organische Vermittelung der im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert auftauchenden modernen Gedanken mit den
überlieferten Existenzen durch eine unglückliche Fügung der Umstände so gut
wie unmöglich gemacht wurde, werden wir zu constatiren, aber, wir denken,
nicht zu rühmen haben.

Die Gothik entspricht einer geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform w
der Entwickelung der christlichen Religion, entspricht darum einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen. Mit welcher
Wendung der Dogmengeschichte tritt sie ein? Das Geschäft der patristischen
Periode -- sie bezeichnet sich durch die Namen der beiden Gregore von Nazianz
und Nyssa, des Augustin, Leos des Großen. Gregors des Großen u. A.,
denen wir in gewissem Sinne den des Anselm von Canterbury beifügen können
-- das Geschäft dieser Periode war es gewesen, nicht nur den evangelischen
Erzählungsstoff festzuhalten und abzugrenzen, sondern auch die Thatsachen der
unter den Augen der Menschen verlaufenen und schon längst mythisirten Ge¬
schichte mit den Gestalten des Jenseits in wirksame Beziehung zu setzen. Auch
diese Zeit war schon nicht mehr die eines ganz naiven Aufnehmens der herr¬
lichen Erscheinung Jesu in das verödete Gemüth, sie ging schon nicht mehr
guf von dem unvermittelter Gefühl des Verlangens nach neuer Lebenskraft,


gehenden Stimmung und Anschauung begreifen. In die Reihe dieser Er¬
scheinungen gehört die Gothik. Wo immer sie entstand oder zumeist ausgebildet
wurde, sie kam einem allgemeinen Bedürfnisse entgegen und übte da, wohin
sie im Bereiche der christlichen Welt übertragen wurde, keinerlei Zwang aus,
sondern wurde als das.wahrhaftige Gegenbild des eigenen ins Bewußtsein
Dringenden Lebensinhaltes ausgenommen und verstanden. Und wurde nur aus¬
geschmückt mit den heimischen Blattern und Blüthen, die denn doch noch hier
und da aus dem Boden hervortricben, den die römischen Colonen so tief durch¬
ackert und mit so fremdartiger Saat bestellt hatten.

So haben wir die Gothik als ein nothwendiges Glied in unsere Ent¬
wickelungsreihe zu stellen, so gut wie wir die Gothik des Gedankens, die
Scholastik, als unser anerkennen müssen, obschon sie auch von Frankreich zu
uns kam. Unser Geist hat diese Formen sich zueigen gemacht, hat sie fortent¬
wickelt und verwandelt und hat ihre Motive als ein unveräußerliches Fidei-
commiß in sich aufgenommen. Bon der Gothik zu reden, so zeigt der Bau
unserer Bürgerhäuser noch bis auf den heutigen Tag ihre unvermerkt wirkenden
Einflüsse. Und wäre das in keinem Sinne unser, was wir gemeinschaftlich
mit Andern besaßen? Wäre es unsere geschichtliche Aufgabe gewesen, seit wir
aus dieser Allgemeinheit zu gesonderter Existenz mit besonderen Zielen heraus¬
traten, die Formen, welche unsere mittelalterliche Vergangenheit uns angebildet
hatte, einfach abzustreifen, wie man lästige Fesseln von sich schleudert? Wäre
das Entwickelung? Daß in der That eine organische Vermittelung der im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert auftauchenden modernen Gedanken mit den
überlieferten Existenzen durch eine unglückliche Fügung der Umstände so gut
wie unmöglich gemacht wurde, werden wir zu constatiren, aber, wir denken,
nicht zu rühmen haben.

Die Gothik entspricht einer geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform w
der Entwickelung der christlichen Religion, entspricht darum einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen. Mit welcher
Wendung der Dogmengeschichte tritt sie ein? Das Geschäft der patristischen
Periode — sie bezeichnet sich durch die Namen der beiden Gregore von Nazianz
und Nyssa, des Augustin, Leos des Großen. Gregors des Großen u. A.,
denen wir in gewissem Sinne den des Anselm von Canterbury beifügen können
— das Geschäft dieser Periode war es gewesen, nicht nur den evangelischen
Erzählungsstoff festzuhalten und abzugrenzen, sondern auch die Thatsachen der
unter den Augen der Menschen verlaufenen und schon längst mythisirten Ge¬
schichte mit den Gestalten des Jenseits in wirksame Beziehung zu setzen. Auch
diese Zeit war schon nicht mehr die eines ganz naiven Aufnehmens der herr¬
lichen Erscheinung Jesu in das verödete Gemüth, sie ging schon nicht mehr
guf von dem unvermittelter Gefühl des Verlangens nach neuer Lebenskraft,


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[0346] gehenden Stimmung und Anschauung begreifen. In die Reihe dieser Er¬ scheinungen gehört die Gothik. Wo immer sie entstand oder zumeist ausgebildet wurde, sie kam einem allgemeinen Bedürfnisse entgegen und übte da, wohin sie im Bereiche der christlichen Welt übertragen wurde, keinerlei Zwang aus, sondern wurde als das.wahrhaftige Gegenbild des eigenen ins Bewußtsein Dringenden Lebensinhaltes ausgenommen und verstanden. Und wurde nur aus¬ geschmückt mit den heimischen Blattern und Blüthen, die denn doch noch hier und da aus dem Boden hervortricben, den die römischen Colonen so tief durch¬ ackert und mit so fremdartiger Saat bestellt hatten. So haben wir die Gothik als ein nothwendiges Glied in unsere Ent¬ wickelungsreihe zu stellen, so gut wie wir die Gothik des Gedankens, die Scholastik, als unser anerkennen müssen, obschon sie auch von Frankreich zu uns kam. Unser Geist hat diese Formen sich zueigen gemacht, hat sie fortent¬ wickelt und verwandelt und hat ihre Motive als ein unveräußerliches Fidei- commiß in sich aufgenommen. Bon der Gothik zu reden, so zeigt der Bau unserer Bürgerhäuser noch bis auf den heutigen Tag ihre unvermerkt wirkenden Einflüsse. Und wäre das in keinem Sinne unser, was wir gemeinschaftlich mit Andern besaßen? Wäre es unsere geschichtliche Aufgabe gewesen, seit wir aus dieser Allgemeinheit zu gesonderter Existenz mit besonderen Zielen heraus¬ traten, die Formen, welche unsere mittelalterliche Vergangenheit uns angebildet hatte, einfach abzustreifen, wie man lästige Fesseln von sich schleudert? Wäre das Entwickelung? Daß in der That eine organische Vermittelung der im fünf¬ zehnten und sechzehnten Jahrhundert auftauchenden modernen Gedanken mit den überlieferten Existenzen durch eine unglückliche Fügung der Umstände so gut wie unmöglich gemacht wurde, werden wir zu constatiren, aber, wir denken, nicht zu rühmen haben. Die Gothik entspricht einer geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform w der Entwickelung der christlichen Religion, entspricht darum einer psychologisch nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen. Mit welcher Wendung der Dogmengeschichte tritt sie ein? Das Geschäft der patristischen Periode — sie bezeichnet sich durch die Namen der beiden Gregore von Nazianz und Nyssa, des Augustin, Leos des Großen. Gregors des Großen u. A., denen wir in gewissem Sinne den des Anselm von Canterbury beifügen können — das Geschäft dieser Periode war es gewesen, nicht nur den evangelischen Erzählungsstoff festzuhalten und abzugrenzen, sondern auch die Thatsachen der unter den Augen der Menschen verlaufenen und schon längst mythisirten Ge¬ schichte mit den Gestalten des Jenseits in wirksame Beziehung zu setzen. Auch diese Zeit war schon nicht mehr die eines ganz naiven Aufnehmens der herr¬ lichen Erscheinung Jesu in das verödete Gemüth, sie ging schon nicht mehr guf von dem unvermittelter Gefühl des Verlangens nach neuer Lebenskraft,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/346>, abgerufen am 28.09.2024.