Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Chors und im Maßwerk)" -- so möchte man versucht sein, diesen Satz für
die Ausführung jener Behauptung zu halten. Aber es ist im Gegentheil die Be¬
handlung charakterisirt, welche der Stil durch unsere Nation erfuhr, der doch
eben erst ein inneres Verhältniß zur Gothik abgesprochen war. Die Anhäng¬
lichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben
stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie
vertrauter war, der deutsche Hang zu ungebundener Entwickelung der individuellen
Eigenart, ein Gefühl von Zusammenhang noch mit der classischen Welt sollen
ein wahres Bedürfniß für die Gothik nicht haben aufkommen lassen. Wohl!
Da nun aber dennoch die neue Bauart auch bei uns nicht nur Boden gewann,
sondern zu fast ausschließlicher Geltung gelangte, so hätten sich jene Eigen¬
thümlichkeiten des deutschen Charakters in der Behandlung des übernommenen
Stils wohl offenbaren müssen? Nein; eben die freiere, ungezwungenere und der
Phantasie mehr Raum lassende Bauweise wird vielmehr nur den Franzosen und
Italienern nachgerühmt. Und nehmen wir nun hinzu, daß neben uns die
Franzosen und Italiener, vor allem aber die Engländer ihre gothischen Werke
für die vollendetsten ausgeben, die höchste Entfaltung des Stils ihren Vorfahren
beimessen und. was das Wichtigste ist. bedeutsame Züge ihres Wesens in den
Momenten der Gothik wiederfinden: so werden wir alle Ursache haben, den
Gesichtspunkt der Nationalität weniger stark hervorzuheben.

In der Betrachtung des Mittelalters will dieser Gesichtspunkt überhaupt
nur sehr vorsichtig angewandt werden. Die beiden Pole, in deren Spannung
A) das mittelalterliche Leben erfüllt, sind die Idee der Christenheit in ihrer
Fassung als Kirche und Reich und die des persönlichen Rechts in ihrer Fassung
als Selbsthilfe, welche die kleinen politischen Körperschaften zum Schuhe des
Rechts und der Existenz hervortreibt. Das mitteninneliegende Nationale ist nur ganz
leise angedeutet. Hat der Gedanke die nächste enge Sphäre der Gilde, des
Weichbildes, der schöffenbaren, des Lehnsvcrbandcs. des Ritter- oder Städte-
bundes verlassen, so springt er unmittelbar in die universalen Beziehungen der
geheiligten Weltmonarchie über; der Mensch denkt, fühlt und handelt noch
nicht aus der Seele der Nation oder eines für bestimmte Zwecke seine Macht
aufbietenden und seine Mittel zusammenfassenden Staates. Diese Potenz führt
"se das Zeitalter der Staatsraison ein. Das Mittelalter, demnach, zeigt uns
eine Reihe von Culturerscheinungen, die allen Gliedern der Christenheit ge¬
meinsam sind; das Gefüge der städtischen Verfassungen, das Ritterthum und
der Minncdienst. das Mönchswesen, die Universitäten mit ihrer scholastischen
Unterrichtsweise sind solche Producte von ganz allgemeinem Charakter. Das
Nationale innerhalb der Scholastik z. B. nachzuweisen, ist noch gar nicht ver¬
sucht worden. Die Kreuzzüge, diese großartige Gesammtthat der abendländischen
Christenheit, lassen sich schließlich doch nur aus einer unterschiedslos durch-


41*

Chors und im Maßwerk)" — so möchte man versucht sein, diesen Satz für
die Ausführung jener Behauptung zu halten. Aber es ist im Gegentheil die Be¬
handlung charakterisirt, welche der Stil durch unsere Nation erfuhr, der doch
eben erst ein inneres Verhältniß zur Gothik abgesprochen war. Die Anhäng¬
lichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben
stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie
vertrauter war, der deutsche Hang zu ungebundener Entwickelung der individuellen
Eigenart, ein Gefühl von Zusammenhang noch mit der classischen Welt sollen
ein wahres Bedürfniß für die Gothik nicht haben aufkommen lassen. Wohl!
Da nun aber dennoch die neue Bauart auch bei uns nicht nur Boden gewann,
sondern zu fast ausschließlicher Geltung gelangte, so hätten sich jene Eigen¬
thümlichkeiten des deutschen Charakters in der Behandlung des übernommenen
Stils wohl offenbaren müssen? Nein; eben die freiere, ungezwungenere und der
Phantasie mehr Raum lassende Bauweise wird vielmehr nur den Franzosen und
Italienern nachgerühmt. Und nehmen wir nun hinzu, daß neben uns die
Franzosen und Italiener, vor allem aber die Engländer ihre gothischen Werke
für die vollendetsten ausgeben, die höchste Entfaltung des Stils ihren Vorfahren
beimessen und. was das Wichtigste ist. bedeutsame Züge ihres Wesens in den
Momenten der Gothik wiederfinden: so werden wir alle Ursache haben, den
Gesichtspunkt der Nationalität weniger stark hervorzuheben.

In der Betrachtung des Mittelalters will dieser Gesichtspunkt überhaupt
nur sehr vorsichtig angewandt werden. Die beiden Pole, in deren Spannung
A) das mittelalterliche Leben erfüllt, sind die Idee der Christenheit in ihrer
Fassung als Kirche und Reich und die des persönlichen Rechts in ihrer Fassung
als Selbsthilfe, welche die kleinen politischen Körperschaften zum Schuhe des
Rechts und der Existenz hervortreibt. Das mitteninneliegende Nationale ist nur ganz
leise angedeutet. Hat der Gedanke die nächste enge Sphäre der Gilde, des
Weichbildes, der schöffenbaren, des Lehnsvcrbandcs. des Ritter- oder Städte-
bundes verlassen, so springt er unmittelbar in die universalen Beziehungen der
geheiligten Weltmonarchie über; der Mensch denkt, fühlt und handelt noch
nicht aus der Seele der Nation oder eines für bestimmte Zwecke seine Macht
aufbietenden und seine Mittel zusammenfassenden Staates. Diese Potenz führt
»se das Zeitalter der Staatsraison ein. Das Mittelalter, demnach, zeigt uns
eine Reihe von Culturerscheinungen, die allen Gliedern der Christenheit ge¬
meinsam sind; das Gefüge der städtischen Verfassungen, das Ritterthum und
der Minncdienst. das Mönchswesen, die Universitäten mit ihrer scholastischen
Unterrichtsweise sind solche Producte von ganz allgemeinem Charakter. Das
Nationale innerhalb der Scholastik z. B. nachzuweisen, ist noch gar nicht ver¬
sucht worden. Die Kreuzzüge, diese großartige Gesammtthat der abendländischen
Christenheit, lassen sich schließlich doch nur aus einer unterschiedslos durch-


41*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0345" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283142"/>
          <p xml:id="ID_1107" prev="#ID_1106"> Chors und im Maßwerk)" &#x2014; so möchte man versucht sein, diesen Satz für<lb/>
die Ausführung jener Behauptung zu halten. Aber es ist im Gegentheil die Be¬<lb/>
handlung charakterisirt, welche der Stil durch unsere Nation erfuhr, der doch<lb/>
eben erst ein inneres Verhältniß zur Gothik abgesprochen war. Die Anhäng¬<lb/>
lichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben<lb/>
stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie<lb/>
vertrauter war, der deutsche Hang zu ungebundener Entwickelung der individuellen<lb/>
Eigenart, ein Gefühl von Zusammenhang noch mit der classischen Welt sollen<lb/>
ein wahres Bedürfniß für die Gothik nicht haben aufkommen lassen. Wohl!<lb/>
Da nun aber dennoch die neue Bauart auch bei uns nicht nur Boden gewann,<lb/>
sondern zu fast ausschließlicher Geltung gelangte, so hätten sich jene Eigen¬<lb/>
thümlichkeiten des deutschen Charakters in der Behandlung des übernommenen<lb/>
Stils wohl offenbaren müssen? Nein; eben die freiere, ungezwungenere und der<lb/>
Phantasie mehr Raum lassende Bauweise wird vielmehr nur den Franzosen und<lb/>
Italienern nachgerühmt.  Und nehmen wir nun hinzu, daß neben uns die<lb/>
Franzosen und Italiener, vor allem aber die Engländer ihre gothischen Werke<lb/>
für die vollendetsten ausgeben, die höchste Entfaltung des Stils ihren Vorfahren<lb/>
beimessen und. was das Wichtigste ist. bedeutsame Züge ihres Wesens in den<lb/>
Momenten der Gothik wiederfinden: so werden wir alle Ursache haben, den<lb/>
Gesichtspunkt der Nationalität weniger stark hervorzuheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1108" next="#ID_1109"> In der Betrachtung des Mittelalters will dieser Gesichtspunkt überhaupt<lb/>
nur sehr vorsichtig angewandt werden. Die beiden Pole, in deren Spannung<lb/>
A) das mittelalterliche Leben erfüllt, sind die Idee der Christenheit in ihrer<lb/>
Fassung als Kirche und Reich und die des persönlichen Rechts in ihrer Fassung<lb/>
als Selbsthilfe, welche die kleinen politischen Körperschaften zum Schuhe des<lb/>
Rechts und der Existenz hervortreibt. Das mitteninneliegende Nationale ist nur ganz<lb/>
leise angedeutet. Hat der Gedanke die nächste enge Sphäre der Gilde, des<lb/>
Weichbildes, der schöffenbaren, des Lehnsvcrbandcs. des Ritter- oder Städte-<lb/>
bundes verlassen, so springt er unmittelbar in die universalen Beziehungen der<lb/>
geheiligten Weltmonarchie über; der Mensch denkt, fühlt und handelt noch<lb/>
nicht aus der Seele der Nation oder eines für bestimmte Zwecke seine Macht<lb/>
aufbietenden und seine Mittel zusammenfassenden Staates. Diese Potenz führt<lb/>
»se das Zeitalter der Staatsraison ein. Das Mittelalter, demnach, zeigt uns<lb/>
eine Reihe von Culturerscheinungen, die allen Gliedern der Christenheit ge¬<lb/>
meinsam sind; das Gefüge der städtischen Verfassungen, das Ritterthum und<lb/>
der Minncdienst. das Mönchswesen, die Universitäten mit ihrer scholastischen<lb/>
Unterrichtsweise sind solche Producte von ganz allgemeinem Charakter. Das<lb/>
Nationale innerhalb der Scholastik z. B. nachzuweisen, ist noch gar nicht ver¬<lb/>
sucht worden. Die Kreuzzüge, diese großartige Gesammtthat der abendländischen<lb/>
Christenheit, lassen sich schließlich doch nur aus einer unterschiedslos durch-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 41*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0345] Chors und im Maßwerk)" — so möchte man versucht sein, diesen Satz für die Ausführung jener Behauptung zu halten. Aber es ist im Gegentheil die Be¬ handlung charakterisirt, welche der Stil durch unsere Nation erfuhr, der doch eben erst ein inneres Verhältniß zur Gothik abgesprochen war. Die Anhäng¬ lichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie vertrauter war, der deutsche Hang zu ungebundener Entwickelung der individuellen Eigenart, ein Gefühl von Zusammenhang noch mit der classischen Welt sollen ein wahres Bedürfniß für die Gothik nicht haben aufkommen lassen. Wohl! Da nun aber dennoch die neue Bauart auch bei uns nicht nur Boden gewann, sondern zu fast ausschließlicher Geltung gelangte, so hätten sich jene Eigen¬ thümlichkeiten des deutschen Charakters in der Behandlung des übernommenen Stils wohl offenbaren müssen? Nein; eben die freiere, ungezwungenere und der Phantasie mehr Raum lassende Bauweise wird vielmehr nur den Franzosen und Italienern nachgerühmt. Und nehmen wir nun hinzu, daß neben uns die Franzosen und Italiener, vor allem aber die Engländer ihre gothischen Werke für die vollendetsten ausgeben, die höchste Entfaltung des Stils ihren Vorfahren beimessen und. was das Wichtigste ist. bedeutsame Züge ihres Wesens in den Momenten der Gothik wiederfinden: so werden wir alle Ursache haben, den Gesichtspunkt der Nationalität weniger stark hervorzuheben. In der Betrachtung des Mittelalters will dieser Gesichtspunkt überhaupt nur sehr vorsichtig angewandt werden. Die beiden Pole, in deren Spannung A) das mittelalterliche Leben erfüllt, sind die Idee der Christenheit in ihrer Fassung als Kirche und Reich und die des persönlichen Rechts in ihrer Fassung als Selbsthilfe, welche die kleinen politischen Körperschaften zum Schuhe des Rechts und der Existenz hervortreibt. Das mitteninneliegende Nationale ist nur ganz leise angedeutet. Hat der Gedanke die nächste enge Sphäre der Gilde, des Weichbildes, der schöffenbaren, des Lehnsvcrbandcs. des Ritter- oder Städte- bundes verlassen, so springt er unmittelbar in die universalen Beziehungen der geheiligten Weltmonarchie über; der Mensch denkt, fühlt und handelt noch nicht aus der Seele der Nation oder eines für bestimmte Zwecke seine Macht aufbietenden und seine Mittel zusammenfassenden Staates. Diese Potenz führt »se das Zeitalter der Staatsraison ein. Das Mittelalter, demnach, zeigt uns eine Reihe von Culturerscheinungen, die allen Gliedern der Christenheit ge¬ meinsam sind; das Gefüge der städtischen Verfassungen, das Ritterthum und der Minncdienst. das Mönchswesen, die Universitäten mit ihrer scholastischen Unterrichtsweise sind solche Producte von ganz allgemeinem Charakter. Das Nationale innerhalb der Scholastik z. B. nachzuweisen, ist noch gar nicht ver¬ sucht worden. Die Kreuzzüge, diese großartige Gesammtthat der abendländischen Christenheit, lassen sich schließlich doch nur aus einer unterschiedslos durch- 41*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/345
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/345>, abgerufen am 29.06.2024.