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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Es mag gelten, denn die erste freie und künstlerisch wirksame Anwendung des
neuen architektonischen Motivs wird entscheiden müssen. Die Erfindung des
Spitzbogens selbst erfolgte ohne Zweifel als ein ganz natürlicher Fortschritt in
der Selbiibcwegung der abendländischen Architektur und ist weder den arabischen
Reminiscenzen der Kreuzfahrer noch etwa einem bewußten Streben zuzuschreiben,für
neue Stimmungen und Anschauungen den angemessenen symbolischen Ausdruck
zu finden. Sie war so gut wie unmittelbar gegeben, sobald man in die Lage
kam, Tonnengewölbe kreuzen zu müssen, denn die Diagonalstcllung der Gradrippen
zeigte den Spitzbogen. Zwar werden allgemein orientalische Einwirkungen an¬
genommen, um das Aufkommen des gothischen Stils zu erklären; aber man
sollte sich doch erinnern, daß es erst die entfesselte, zu Schweifungen geneigte
und das Zierwcrk in übertriebenen Maße ausbildende Gothik ist, welche mit
dem arabischen Stile Ähnlichkeit zeigt, und daß es unter jener Voraussetzung
schwer hält, sich bei den Nachahmern das Zurückgehen auf die primitive, keimhafte
Form und dann die stufenweise und ganz systematisch erfolgende Ausbildung
unseres mittelalterlichen Stiles vorzustellen.

In jedem Falle ist es von untergeordnetem Werthe, den thatsächlichen
äußeren Ursprung der Gothik mit voller Sicherheit auszumachen; zu welcher
Wirkung.die damals herrschende Weltanschauung die einzelnen so oder so ge¬
fundenen Elemente verbunden, wie sie die Mittel der Architektur verwandt hat
sich selbst zur Darstellung zu dringen, dies mit einiger Deutlichkeit zu'erkennen
ist das Wesentliche. Steht aber die Frage nach dem geistigen Ursprünge der
gothischen Bauwerke selbst, nach dem allgemeinen Grunde des Lebens, das
ihnen eingehaucht ist, so werden wir uns nicht nach Frankreich weisen lassen
dürfen. Sollte überhaupt die Kategorie der Nationalität hier anwendbar sein?
Wie mißlich es damit stehe, beweisen uns die eigenen Ausführungen unseres
Kritikers. Er will eine innige Wahlverwandtschaft zwischen dem strengen und
energisch zusammenfassenden Charakter des gothischen Stils und der straffe"!
schematisirenden Art des französischen Geistes entdecken, der eben in jener
Periode die ihm eigenthümliche Feindseligkeit gegen die Geltung des Individuellen
in sich entwickelte. Und wenn er nun irgendwo sagt: "Diese straffe, con-
sequente, ausgrübelnde, jede Einmischung erfinderischer Phantasie, jeden Reich¬
thum mannigfaltiger Formen abweisende Ausarbeitung der Bauart: das voll¬
ständige Auslöschen des echt-architektonischen Gegensatzes von Last und Kraft in
der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseitigung der Horizontale, dagegen die Aus¬
bildung des Verticalprincips bis zu seinen äußersten Spitzen, die Auflösung
der umschließenden Mauern in Stab- und Fensterwerk, die wahrhaft fanatische
Begeisterung für den Thurmbau. der im durchbrochenen Helm selbst das Be"
dürfniß durch den Zwang des Systems überwindet, endlich die Vorliebe für
ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich in der Polygonalanlage des


Es mag gelten, denn die erste freie und künstlerisch wirksame Anwendung des
neuen architektonischen Motivs wird entscheiden müssen. Die Erfindung des
Spitzbogens selbst erfolgte ohne Zweifel als ein ganz natürlicher Fortschritt in
der Selbiibcwegung der abendländischen Architektur und ist weder den arabischen
Reminiscenzen der Kreuzfahrer noch etwa einem bewußten Streben zuzuschreiben,für
neue Stimmungen und Anschauungen den angemessenen symbolischen Ausdruck
zu finden. Sie war so gut wie unmittelbar gegeben, sobald man in die Lage
kam, Tonnengewölbe kreuzen zu müssen, denn die Diagonalstcllung der Gradrippen
zeigte den Spitzbogen. Zwar werden allgemein orientalische Einwirkungen an¬
genommen, um das Aufkommen des gothischen Stils zu erklären; aber man
sollte sich doch erinnern, daß es erst die entfesselte, zu Schweifungen geneigte
und das Zierwcrk in übertriebenen Maße ausbildende Gothik ist, welche mit
dem arabischen Stile Ähnlichkeit zeigt, und daß es unter jener Voraussetzung
schwer hält, sich bei den Nachahmern das Zurückgehen auf die primitive, keimhafte
Form und dann die stufenweise und ganz systematisch erfolgende Ausbildung
unseres mittelalterlichen Stiles vorzustellen.

In jedem Falle ist es von untergeordnetem Werthe, den thatsächlichen
äußeren Ursprung der Gothik mit voller Sicherheit auszumachen; zu welcher
Wirkung.die damals herrschende Weltanschauung die einzelnen so oder so ge¬
fundenen Elemente verbunden, wie sie die Mittel der Architektur verwandt hat
sich selbst zur Darstellung zu dringen, dies mit einiger Deutlichkeit zu'erkennen
ist das Wesentliche. Steht aber die Frage nach dem geistigen Ursprünge der
gothischen Bauwerke selbst, nach dem allgemeinen Grunde des Lebens, das
ihnen eingehaucht ist, so werden wir uns nicht nach Frankreich weisen lassen
dürfen. Sollte überhaupt die Kategorie der Nationalität hier anwendbar sein?
Wie mißlich es damit stehe, beweisen uns die eigenen Ausführungen unseres
Kritikers. Er will eine innige Wahlverwandtschaft zwischen dem strengen und
energisch zusammenfassenden Charakter des gothischen Stils und der straffe«!
schematisirenden Art des französischen Geistes entdecken, der eben in jener
Periode die ihm eigenthümliche Feindseligkeit gegen die Geltung des Individuellen
in sich entwickelte. Und wenn er nun irgendwo sagt: „Diese straffe, con-
sequente, ausgrübelnde, jede Einmischung erfinderischer Phantasie, jeden Reich¬
thum mannigfaltiger Formen abweisende Ausarbeitung der Bauart: das voll¬
ständige Auslöschen des echt-architektonischen Gegensatzes von Last und Kraft in
der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseitigung der Horizontale, dagegen die Aus¬
bildung des Verticalprincips bis zu seinen äußersten Spitzen, die Auflösung
der umschließenden Mauern in Stab- und Fensterwerk, die wahrhaft fanatische
Begeisterung für den Thurmbau. der im durchbrochenen Helm selbst das Be»
dürfniß durch den Zwang des Systems überwindet, endlich die Vorliebe für
ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich in der Polygonalanlage des


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[0344] Es mag gelten, denn die erste freie und künstlerisch wirksame Anwendung des neuen architektonischen Motivs wird entscheiden müssen. Die Erfindung des Spitzbogens selbst erfolgte ohne Zweifel als ein ganz natürlicher Fortschritt in der Selbiibcwegung der abendländischen Architektur und ist weder den arabischen Reminiscenzen der Kreuzfahrer noch etwa einem bewußten Streben zuzuschreiben,für neue Stimmungen und Anschauungen den angemessenen symbolischen Ausdruck zu finden. Sie war so gut wie unmittelbar gegeben, sobald man in die Lage kam, Tonnengewölbe kreuzen zu müssen, denn die Diagonalstcllung der Gradrippen zeigte den Spitzbogen. Zwar werden allgemein orientalische Einwirkungen an¬ genommen, um das Aufkommen des gothischen Stils zu erklären; aber man sollte sich doch erinnern, daß es erst die entfesselte, zu Schweifungen geneigte und das Zierwcrk in übertriebenen Maße ausbildende Gothik ist, welche mit dem arabischen Stile Ähnlichkeit zeigt, und daß es unter jener Voraussetzung schwer hält, sich bei den Nachahmern das Zurückgehen auf die primitive, keimhafte Form und dann die stufenweise und ganz systematisch erfolgende Ausbildung unseres mittelalterlichen Stiles vorzustellen. In jedem Falle ist es von untergeordnetem Werthe, den thatsächlichen äußeren Ursprung der Gothik mit voller Sicherheit auszumachen; zu welcher Wirkung.die damals herrschende Weltanschauung die einzelnen so oder so ge¬ fundenen Elemente verbunden, wie sie die Mittel der Architektur verwandt hat sich selbst zur Darstellung zu dringen, dies mit einiger Deutlichkeit zu'erkennen ist das Wesentliche. Steht aber die Frage nach dem geistigen Ursprünge der gothischen Bauwerke selbst, nach dem allgemeinen Grunde des Lebens, das ihnen eingehaucht ist, so werden wir uns nicht nach Frankreich weisen lassen dürfen. Sollte überhaupt die Kategorie der Nationalität hier anwendbar sein? Wie mißlich es damit stehe, beweisen uns die eigenen Ausführungen unseres Kritikers. Er will eine innige Wahlverwandtschaft zwischen dem strengen und energisch zusammenfassenden Charakter des gothischen Stils und der straffe«! schematisirenden Art des französischen Geistes entdecken, der eben in jener Periode die ihm eigenthümliche Feindseligkeit gegen die Geltung des Individuellen in sich entwickelte. Und wenn er nun irgendwo sagt: „Diese straffe, con- sequente, ausgrübelnde, jede Einmischung erfinderischer Phantasie, jeden Reich¬ thum mannigfaltiger Formen abweisende Ausarbeitung der Bauart: das voll¬ ständige Auslöschen des echt-architektonischen Gegensatzes von Last und Kraft in der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseitigung der Horizontale, dagegen die Aus¬ bildung des Verticalprincips bis zu seinen äußersten Spitzen, die Auflösung der umschließenden Mauern in Stab- und Fensterwerk, die wahrhaft fanatische Begeisterung für den Thurmbau. der im durchbrochenen Helm selbst das Be» dürfniß durch den Zwang des Systems überwindet, endlich die Vorliebe für ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich in der Polygonalanlage des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/344>, abgerufen am 29.06.2024.