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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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zum vollen Accord, zu voller Lebendigkeit. Merkwürdig genug, wie dürftig die
Naturschilderung, wenn sie überhaupt begegnet, bei denjenigen Poeten ist,
die unter dem Eindrucke der reichen sinnlichen Erfahrungen der Kreuzzüge stehen.
Bei Dante ist alles deutlich, concret, es beruht auf bewußter Beobachtung.
Er ist der erste moderne Mensch, bei welchem wir dies finden, und er ist zu¬
gleich auf Jahrhunderte hinaus der größte Schilderer des Naturlebens. Die
ungeheure Scenerie seines Gedichtes ist überall klar, auch die groteskesten
Bilder seiner Phantasie sind immer von greifbarer, erschütternder Realität.
Bis ans Virtuose streift die Handhabung der Mittel, über die er gebietet, und
im Himmel und auf Erden ist nichts Bedeutsames, was seinem Biel entginge.
Auf gleicher Höhe steht seine Kunst der Seclenschilderei. Vor dem unerbittlichen
Blicke des Herzenstündigers wird das Geheimste der Menschenbrust offenbar.
Auch die zarten Beziehungen zwischen Natur- und Seelenstimmung kennt und
benutzt er, aber niemals als Selbstzweck, sondern mit höchster poetischer Weisheit
zur Zeichnung der Situation, auf die es ihm ankommt. Seiner Gcnialiät
gegenüber wanken alle Grundsätze der Theorie über die Grenzen der Darstell-
barkeit. Ist es begreiflich, wenn Goethe, der ihn nur oberflächlich gekannt hat,
von einer "widerwärtigen, oft abscheulichen Großheit" Dantes spricht, so ist
darum nicht minder gewiß, daß alles, was seine Poesie berührt, wirklich cxistict
und volles Leben athmet. Denn das Größte wie das Kleinste in seinem
Gedicht ist Erlebniß, und wer es mit Hingabe liest, empfindet heute noch den
Zeitgenossen das Grauen nach, mit welchem sie, wenn er vvrüberschritt, einander
zuflüsterten: der war in der Hölle!

So erstaunlich die poetische Schöpferkraft ist, welche der Erneuerung des
Gemüthslebens entsprang, so haben seine eigentlich sittlichen Anschauungen,
wie sie sich vor allem in der Behandlung der Geschichte zeigen, nicht weniger
zu bedeuten. Von neuem darf hier auf die Parallele hingewiesen werden, die
zwischen der Entwicklung des deutschen und dieses italienischen Protestantismus
besteht. Verfolgen wir die Verkündigungen des neuen Lebens in Deutschland
überall begegnen wir der Sehnsucht nach Wiederherstellung eines alten, eines
ursprünglichen Zustandes. "Reformation" ist der Titel aller der unzähligen
Versuche einer politischen Erneuerung des Reichs; Reformation heißt jede Er¬
schütterung der katholischen Kirche, welche von dem Glauben aus unternommen
wird, man habe nur ein im Schütte der Tradition Versunkenes wieder aufzu¬
richten. In Wahrheit war dies Täuschung. Jenes Einst hatte niemals existirt;
hinter aller dieser Sehnsucht lag ein ganz Neues verborgen. Zu seiner Be¬
glaubigung ward es insiinctiv mit dem Namen eines vermeintlich ehemals
Gewesenen belegt, ein Zug. in welchem sich auf Schritt und Tritt der
wunderbare historische Sinn offenbart, welcher die modernen Culturvölker aus¬
zeichnet.


zum vollen Accord, zu voller Lebendigkeit. Merkwürdig genug, wie dürftig die
Naturschilderung, wenn sie überhaupt begegnet, bei denjenigen Poeten ist,
die unter dem Eindrucke der reichen sinnlichen Erfahrungen der Kreuzzüge stehen.
Bei Dante ist alles deutlich, concret, es beruht auf bewußter Beobachtung.
Er ist der erste moderne Mensch, bei welchem wir dies finden, und er ist zu¬
gleich auf Jahrhunderte hinaus der größte Schilderer des Naturlebens. Die
ungeheure Scenerie seines Gedichtes ist überall klar, auch die groteskesten
Bilder seiner Phantasie sind immer von greifbarer, erschütternder Realität.
Bis ans Virtuose streift die Handhabung der Mittel, über die er gebietet, und
im Himmel und auf Erden ist nichts Bedeutsames, was seinem Biel entginge.
Auf gleicher Höhe steht seine Kunst der Seclenschilderei. Vor dem unerbittlichen
Blicke des Herzenstündigers wird das Geheimste der Menschenbrust offenbar.
Auch die zarten Beziehungen zwischen Natur- und Seelenstimmung kennt und
benutzt er, aber niemals als Selbstzweck, sondern mit höchster poetischer Weisheit
zur Zeichnung der Situation, auf die es ihm ankommt. Seiner Gcnialiät
gegenüber wanken alle Grundsätze der Theorie über die Grenzen der Darstell-
barkeit. Ist es begreiflich, wenn Goethe, der ihn nur oberflächlich gekannt hat,
von einer „widerwärtigen, oft abscheulichen Großheit" Dantes spricht, so ist
darum nicht minder gewiß, daß alles, was seine Poesie berührt, wirklich cxistict
und volles Leben athmet. Denn das Größte wie das Kleinste in seinem
Gedicht ist Erlebniß, und wer es mit Hingabe liest, empfindet heute noch den
Zeitgenossen das Grauen nach, mit welchem sie, wenn er vvrüberschritt, einander
zuflüsterten: der war in der Hölle!

So erstaunlich die poetische Schöpferkraft ist, welche der Erneuerung des
Gemüthslebens entsprang, so haben seine eigentlich sittlichen Anschauungen,
wie sie sich vor allem in der Behandlung der Geschichte zeigen, nicht weniger
zu bedeuten. Von neuem darf hier auf die Parallele hingewiesen werden, die
zwischen der Entwicklung des deutschen und dieses italienischen Protestantismus
besteht. Verfolgen wir die Verkündigungen des neuen Lebens in Deutschland
überall begegnen wir der Sehnsucht nach Wiederherstellung eines alten, eines
ursprünglichen Zustandes. „Reformation" ist der Titel aller der unzähligen
Versuche einer politischen Erneuerung des Reichs; Reformation heißt jede Er¬
schütterung der katholischen Kirche, welche von dem Glauben aus unternommen
wird, man habe nur ein im Schütte der Tradition Versunkenes wieder aufzu¬
richten. In Wahrheit war dies Täuschung. Jenes Einst hatte niemals existirt;
hinter aller dieser Sehnsucht lag ein ganz Neues verborgen. Zu seiner Be¬
glaubigung ward es insiinctiv mit dem Namen eines vermeintlich ehemals
Gewesenen belegt, ein Zug. in welchem sich auf Schritt und Tritt der
wunderbare historische Sinn offenbart, welcher die modernen Culturvölker aus¬
zeichnet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/306>, abgerufen am 29.06.2024.