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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Am gewaltigsten tritt dieser Protest uns entgegen in Dante, dem Propheten
dieser Cultur. Bei ihm, in dessen Namen der Italiener das vereinigt zu
empfinden glaubt, was wir mit den Namen Luthers und Goethes aussprechen,
liegt die Wucht des ganzen Wesens so sehr im sittlichen und religiösen Pathos,
daß ihm gegenüber der angedeutete Gegensatz völlig in Nichts zerfällt. Und
wieder, wenn wir heute seine göttliche Komödie lesen, so ist es nicht das
Positive seiner ethischen und theologischen Ueberzeugungen, was als das
Epochemachende auf uns wirkt. So sehr ihm darauf anzukommen scheint und
so groß die Kunst und Mühe ist, womit er den Inhalt seiner Wissenschaft mit
der poetischen Darstellung verbindet, uns ergreift in unendlich höherem Grade
die Wahrnehmung, daß bei diesem ungeheuern Unternehmen ein Element ganz
yener Art frei wird, und dieses erst macht ihn für uns zum Prediger einer
neuen Zeit. Zum ersten Male, begegnen wir in der neuen christlichen Literatur
einem Werke, das die Züge eines einzelnen Menschen trägt. Keine Strophe
seines großen Liedes, aus der uns nickt das Auge eines Mannes entgegen¬
leuchtete, den wir in seiner ganzen Eigenthümlichkeit erfassen können; kein
Gesang, durch den nicht der eherne Schritt dieser hohen, unnahbaren Gestalt
vernehmbar würde!

Die Erhebung und Befreiung des Individuellen und Persönlichen ist die
große That der italienischen Renaissance. Der Mensch des Mittelalters fühlt
sich nur als einer unter vielen Gleichen, in der Existenz der Gemeinschaft
empfindet er allein das Recht seiner eignen; nur durch das Organ einer Ge¬
meinsamkeit, welcher er untergeordnet war, trat der Einzelne in ein Verhältniß
zur Welt und zu Gott. Nach jener Seite übernahm die bürgerliche und die
ständische Gemeinde, in welche er hineingeboren war, nach der andern Seite
usurpirte die Anstalt der Kirche seine Vermittlung und Rechtfertigung; er selbst
war völlig dahingegeben. er lebte, wollte, dachte nur als Gattungswesen.

Diesen Bann haben zuerst die Italiener durchbrochen. In Dante und
seinen Zeitgenossen reckt sich zum ersten Male der gottgegebene Adel der Menschen-
natur empor über die Schranken der Race. Stolz und frei beruft sich die
Persönlichkeit auf sich selber und schaut aus eigenen Augen auf die Welt.

"Gott hat am Ende der Schöpfungstage den Menschen geschaffen, aus
daß er im Weltall die Gesetze erkenne, die Schönheit liebe, die Größe bewundere.
Er band ihn an keinen festen Sitz, an kein bestimmtes Thun, an keine Noth¬
wendigkeit, sondern gab ihm Selbstbestimmung und freien Willen. Mitten in
die Welt hinein -- so spricht der Schöpfer zu Adam -- habe ich Dich gestellt,
so daß du frei und leicht um dich schauen magst und sehen alles, was darinnen
ist- Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich
noch unsterblich allein, damit du dein eigner freier Bildner und Ueberwinder
werdest. Du kannst zum Thiere entarten und zum göttlichen Wesen dich wieder-


Am gewaltigsten tritt dieser Protest uns entgegen in Dante, dem Propheten
dieser Cultur. Bei ihm, in dessen Namen der Italiener das vereinigt zu
empfinden glaubt, was wir mit den Namen Luthers und Goethes aussprechen,
liegt die Wucht des ganzen Wesens so sehr im sittlichen und religiösen Pathos,
daß ihm gegenüber der angedeutete Gegensatz völlig in Nichts zerfällt. Und
wieder, wenn wir heute seine göttliche Komödie lesen, so ist es nicht das
Positive seiner ethischen und theologischen Ueberzeugungen, was als das
Epochemachende auf uns wirkt. So sehr ihm darauf anzukommen scheint und
so groß die Kunst und Mühe ist, womit er den Inhalt seiner Wissenschaft mit
der poetischen Darstellung verbindet, uns ergreift in unendlich höherem Grade
die Wahrnehmung, daß bei diesem ungeheuern Unternehmen ein Element ganz
yener Art frei wird, und dieses erst macht ihn für uns zum Prediger einer
neuen Zeit. Zum ersten Male, begegnen wir in der neuen christlichen Literatur
einem Werke, das die Züge eines einzelnen Menschen trägt. Keine Strophe
seines großen Liedes, aus der uns nickt das Auge eines Mannes entgegen¬
leuchtete, den wir in seiner ganzen Eigenthümlichkeit erfassen können; kein
Gesang, durch den nicht der eherne Schritt dieser hohen, unnahbaren Gestalt
vernehmbar würde!

Die Erhebung und Befreiung des Individuellen und Persönlichen ist die
große That der italienischen Renaissance. Der Mensch des Mittelalters fühlt
sich nur als einer unter vielen Gleichen, in der Existenz der Gemeinschaft
empfindet er allein das Recht seiner eignen; nur durch das Organ einer Ge¬
meinsamkeit, welcher er untergeordnet war, trat der Einzelne in ein Verhältniß
zur Welt und zu Gott. Nach jener Seite übernahm die bürgerliche und die
ständische Gemeinde, in welche er hineingeboren war, nach der andern Seite
usurpirte die Anstalt der Kirche seine Vermittlung und Rechtfertigung; er selbst
war völlig dahingegeben. er lebte, wollte, dachte nur als Gattungswesen.

Diesen Bann haben zuerst die Italiener durchbrochen. In Dante und
seinen Zeitgenossen reckt sich zum ersten Male der gottgegebene Adel der Menschen-
natur empor über die Schranken der Race. Stolz und frei beruft sich die
Persönlichkeit auf sich selber und schaut aus eigenen Augen auf die Welt.

„Gott hat am Ende der Schöpfungstage den Menschen geschaffen, aus
daß er im Weltall die Gesetze erkenne, die Schönheit liebe, die Größe bewundere.
Er band ihn an keinen festen Sitz, an kein bestimmtes Thun, an keine Noth¬
wendigkeit, sondern gab ihm Selbstbestimmung und freien Willen. Mitten in
die Welt hinein — so spricht der Schöpfer zu Adam — habe ich Dich gestellt,
so daß du frei und leicht um dich schauen magst und sehen alles, was darinnen
ist- Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich
noch unsterblich allein, damit du dein eigner freier Bildner und Ueberwinder
werdest. Du kannst zum Thiere entarten und zum göttlichen Wesen dich wieder-


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[0304] Am gewaltigsten tritt dieser Protest uns entgegen in Dante, dem Propheten dieser Cultur. Bei ihm, in dessen Namen der Italiener das vereinigt zu empfinden glaubt, was wir mit den Namen Luthers und Goethes aussprechen, liegt die Wucht des ganzen Wesens so sehr im sittlichen und religiösen Pathos, daß ihm gegenüber der angedeutete Gegensatz völlig in Nichts zerfällt. Und wieder, wenn wir heute seine göttliche Komödie lesen, so ist es nicht das Positive seiner ethischen und theologischen Ueberzeugungen, was als das Epochemachende auf uns wirkt. So sehr ihm darauf anzukommen scheint und so groß die Kunst und Mühe ist, womit er den Inhalt seiner Wissenschaft mit der poetischen Darstellung verbindet, uns ergreift in unendlich höherem Grade die Wahrnehmung, daß bei diesem ungeheuern Unternehmen ein Element ganz yener Art frei wird, und dieses erst macht ihn für uns zum Prediger einer neuen Zeit. Zum ersten Male, begegnen wir in der neuen christlichen Literatur einem Werke, das die Züge eines einzelnen Menschen trägt. Keine Strophe seines großen Liedes, aus der uns nickt das Auge eines Mannes entgegen¬ leuchtete, den wir in seiner ganzen Eigenthümlichkeit erfassen können; kein Gesang, durch den nicht der eherne Schritt dieser hohen, unnahbaren Gestalt vernehmbar würde! Die Erhebung und Befreiung des Individuellen und Persönlichen ist die große That der italienischen Renaissance. Der Mensch des Mittelalters fühlt sich nur als einer unter vielen Gleichen, in der Existenz der Gemeinschaft empfindet er allein das Recht seiner eignen; nur durch das Organ einer Ge¬ meinsamkeit, welcher er untergeordnet war, trat der Einzelne in ein Verhältniß zur Welt und zu Gott. Nach jener Seite übernahm die bürgerliche und die ständische Gemeinde, in welche er hineingeboren war, nach der andern Seite usurpirte die Anstalt der Kirche seine Vermittlung und Rechtfertigung; er selbst war völlig dahingegeben. er lebte, wollte, dachte nur als Gattungswesen. Diesen Bann haben zuerst die Italiener durchbrochen. In Dante und seinen Zeitgenossen reckt sich zum ersten Male der gottgegebene Adel der Menschen- natur empor über die Schranken der Race. Stolz und frei beruft sich die Persönlichkeit auf sich selber und schaut aus eigenen Augen auf die Welt. „Gott hat am Ende der Schöpfungstage den Menschen geschaffen, aus daß er im Weltall die Gesetze erkenne, die Schönheit liebe, die Größe bewundere. Er band ihn an keinen festen Sitz, an kein bestimmtes Thun, an keine Noth¬ wendigkeit, sondern gab ihm Selbstbestimmung und freien Willen. Mitten in die Welt hinein — so spricht der Schöpfer zu Adam — habe ich Dich gestellt, so daß du frei und leicht um dich schauen magst und sehen alles, was darinnen ist- Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich allein, damit du dein eigner freier Bildner und Ueberwinder werdest. Du kannst zum Thiere entarten und zum göttlichen Wesen dich wieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/304>, abgerufen am 29.06.2024.