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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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müßigen, schaulustigen, scharfblickender Stadtbevölkerung. Von dem Tage, wo er
die Kinderstube verließ, lebte er in der Oeffentlichkeit, vom Morgen bis zum
Abend begleitet durch sein Gefolge von Clienten und Schützlingen. Er hielt
seine Gerichtsreden vor dem Volke; wie er aussah, wie er sprach, wie er die
Hand in die Toga hüllte, wie er die Vorwürfe seiner Gegner ausnahm, wie
er sich bei kleinen Ereignissen der Straße benahm, beobachteten spähend tausend
Neugierige. Sobald er vollends in den Senat eintrat, wurde er ein Gegen¬
stand des Interesses für die gesammten Staatsmänner und Talente seiner Zeit,
seine Parteistellung, seine Haltung in einzelnen Fragen, seine Popularität, seine
Freunde, seine Liebhabereien, seine Abenteuer, das alles wurde Stoff der
Tagesunterhaltung auf dem Forum, in der Halle der Senatoren, in den zahl¬
reichen Salons der vornehmen Frauen, welche Politik fast ebenso leidenschaft¬
lich betrieben als ihre Licbesangelegenheiten. Bei einem so entwickelten öffent¬
lichen Leben, dem wir Modernen nirgend etwas Aehnliches zu vergleichen finden
bildete sich ein instinctiver Scharfblick für Beurtheilung der Menschen, der
das am meisten Charakteristische und uns am meisten Jmpvnirende in der
römischen Literatur jener Zeit . ist. Aus den zahllosen Anekdoten. Scandal-
gcschichten, Velläumdungcn und Witzreden blieb als Niederschlag in den Seelen
ein Portraitbild der Zeitgenossen zurück, allerdings ohne die hohen und
idealen Züge, deren kein Bild entbehren kann, wenn es völlig ähnlich sein soll,
aber ein Portraitbild von fast photographischer Genauigkeit. Und nicht nur
dies eigenthümliche Leben in der Oeffentlichkeit zog die Römer zu so guten Be¬
obachtern ihrer Zeitgenossen, auch die gesammte Bildung und die politischen
Schicksale des Staates steigerten die Unbefangenheit des Urtheils. Die Politiker
des damaligen Roms bildeten die herrschende Classe, die Familien derselben
waren durch Heirathen, Adoptionen und vor allem durch gemeinsame Interessen
mit einander verbunden; die Wege reich zu werden, das Volk zu gewinnen, die
Gegner zu stürzen, waren durch mehrhundertjährige Praxis für alle festgestellt
worden. Wie heftig die Parteien im Senat und auf dem Forum zusammen¬
stießen, in den Häusern blieb doch in der Regel ein geselliger Zusammenhang
oder das Gefühl der Zusammengehörigkeit. In Zeiten gewaltsamer politischer
Abrechnung ließ der Gegner die Gegner ohne Bedenken hinmetzein. aber die
Lebenden verkehrten mit einander in den Formen einer reichen und rücksichtsvollen
Geselligkeit. Die Parteien waren nach einander zur Herrschaft gekommen.
Marianer und Sullaner hatten geplündert und das Blut ihrer Feinde vergossen,
kaum eine regierende Familie, deren Mitglieder nicht Arges gethan und Arges
geduldet hatten. Die Verfolgungen und Metzeleien waren übergroß und scheu߬
lich geworden, seitdem nahm die politische Leidenschaft ab. Die gemeinsten Motive,
Habgier, persönliche Rachsucht standen im Vordergrund, man haßte die Gegen¬
partei, weil sie im Besitz der Gewalt war. die ihren Ncsub sicherte und weil


müßigen, schaulustigen, scharfblickender Stadtbevölkerung. Von dem Tage, wo er
die Kinderstube verließ, lebte er in der Oeffentlichkeit, vom Morgen bis zum
Abend begleitet durch sein Gefolge von Clienten und Schützlingen. Er hielt
seine Gerichtsreden vor dem Volke; wie er aussah, wie er sprach, wie er die
Hand in die Toga hüllte, wie er die Vorwürfe seiner Gegner ausnahm, wie
er sich bei kleinen Ereignissen der Straße benahm, beobachteten spähend tausend
Neugierige. Sobald er vollends in den Senat eintrat, wurde er ein Gegen¬
stand des Interesses für die gesammten Staatsmänner und Talente seiner Zeit,
seine Parteistellung, seine Haltung in einzelnen Fragen, seine Popularität, seine
Freunde, seine Liebhabereien, seine Abenteuer, das alles wurde Stoff der
Tagesunterhaltung auf dem Forum, in der Halle der Senatoren, in den zahl¬
reichen Salons der vornehmen Frauen, welche Politik fast ebenso leidenschaft¬
lich betrieben als ihre Licbesangelegenheiten. Bei einem so entwickelten öffent¬
lichen Leben, dem wir Modernen nirgend etwas Aehnliches zu vergleichen finden
bildete sich ein instinctiver Scharfblick für Beurtheilung der Menschen, der
das am meisten Charakteristische und uns am meisten Jmpvnirende in der
römischen Literatur jener Zeit . ist. Aus den zahllosen Anekdoten. Scandal-
gcschichten, Velläumdungcn und Witzreden blieb als Niederschlag in den Seelen
ein Portraitbild der Zeitgenossen zurück, allerdings ohne die hohen und
idealen Züge, deren kein Bild entbehren kann, wenn es völlig ähnlich sein soll,
aber ein Portraitbild von fast photographischer Genauigkeit. Und nicht nur
dies eigenthümliche Leben in der Oeffentlichkeit zog die Römer zu so guten Be¬
obachtern ihrer Zeitgenossen, auch die gesammte Bildung und die politischen
Schicksale des Staates steigerten die Unbefangenheit des Urtheils. Die Politiker
des damaligen Roms bildeten die herrschende Classe, die Familien derselben
waren durch Heirathen, Adoptionen und vor allem durch gemeinsame Interessen
mit einander verbunden; die Wege reich zu werden, das Volk zu gewinnen, die
Gegner zu stürzen, waren durch mehrhundertjährige Praxis für alle festgestellt
worden. Wie heftig die Parteien im Senat und auf dem Forum zusammen¬
stießen, in den Häusern blieb doch in der Regel ein geselliger Zusammenhang
oder das Gefühl der Zusammengehörigkeit. In Zeiten gewaltsamer politischer
Abrechnung ließ der Gegner die Gegner ohne Bedenken hinmetzein. aber die
Lebenden verkehrten mit einander in den Formen einer reichen und rücksichtsvollen
Geselligkeit. Die Parteien waren nach einander zur Herrschaft gekommen.
Marianer und Sullaner hatten geplündert und das Blut ihrer Feinde vergossen,
kaum eine regierende Familie, deren Mitglieder nicht Arges gethan und Arges
geduldet hatten. Die Verfolgungen und Metzeleien waren übergroß und scheu߬
lich geworden, seitdem nahm die politische Leidenschaft ab. Die gemeinsten Motive,
Habgier, persönliche Rachsucht standen im Vordergrund, man haßte die Gegen¬
partei, weil sie im Besitz der Gewalt war. die ihren Ncsub sicherte und weil


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[0222] müßigen, schaulustigen, scharfblickender Stadtbevölkerung. Von dem Tage, wo er die Kinderstube verließ, lebte er in der Oeffentlichkeit, vom Morgen bis zum Abend begleitet durch sein Gefolge von Clienten und Schützlingen. Er hielt seine Gerichtsreden vor dem Volke; wie er aussah, wie er sprach, wie er die Hand in die Toga hüllte, wie er die Vorwürfe seiner Gegner ausnahm, wie er sich bei kleinen Ereignissen der Straße benahm, beobachteten spähend tausend Neugierige. Sobald er vollends in den Senat eintrat, wurde er ein Gegen¬ stand des Interesses für die gesammten Staatsmänner und Talente seiner Zeit, seine Parteistellung, seine Haltung in einzelnen Fragen, seine Popularität, seine Freunde, seine Liebhabereien, seine Abenteuer, das alles wurde Stoff der Tagesunterhaltung auf dem Forum, in der Halle der Senatoren, in den zahl¬ reichen Salons der vornehmen Frauen, welche Politik fast ebenso leidenschaft¬ lich betrieben als ihre Licbesangelegenheiten. Bei einem so entwickelten öffent¬ lichen Leben, dem wir Modernen nirgend etwas Aehnliches zu vergleichen finden bildete sich ein instinctiver Scharfblick für Beurtheilung der Menschen, der das am meisten Charakteristische und uns am meisten Jmpvnirende in der römischen Literatur jener Zeit . ist. Aus den zahllosen Anekdoten. Scandal- gcschichten, Velläumdungcn und Witzreden blieb als Niederschlag in den Seelen ein Portraitbild der Zeitgenossen zurück, allerdings ohne die hohen und idealen Züge, deren kein Bild entbehren kann, wenn es völlig ähnlich sein soll, aber ein Portraitbild von fast photographischer Genauigkeit. Und nicht nur dies eigenthümliche Leben in der Oeffentlichkeit zog die Römer zu so guten Be¬ obachtern ihrer Zeitgenossen, auch die gesammte Bildung und die politischen Schicksale des Staates steigerten die Unbefangenheit des Urtheils. Die Politiker des damaligen Roms bildeten die herrschende Classe, die Familien derselben waren durch Heirathen, Adoptionen und vor allem durch gemeinsame Interessen mit einander verbunden; die Wege reich zu werden, das Volk zu gewinnen, die Gegner zu stürzen, waren durch mehrhundertjährige Praxis für alle festgestellt worden. Wie heftig die Parteien im Senat und auf dem Forum zusammen¬ stießen, in den Häusern blieb doch in der Regel ein geselliger Zusammenhang oder das Gefühl der Zusammengehörigkeit. In Zeiten gewaltsamer politischer Abrechnung ließ der Gegner die Gegner ohne Bedenken hinmetzein. aber die Lebenden verkehrten mit einander in den Formen einer reichen und rücksichtsvollen Geselligkeit. Die Parteien waren nach einander zur Herrschaft gekommen. Marianer und Sullaner hatten geplündert und das Blut ihrer Feinde vergossen, kaum eine regierende Familie, deren Mitglieder nicht Arges gethan und Arges geduldet hatten. Die Verfolgungen und Metzeleien waren übergroß und scheu߬ lich geworden, seitdem nahm die politische Leidenschaft ab. Die gemeinsten Motive, Habgier, persönliche Rachsucht standen im Vordergrund, man haßte die Gegen¬ partei, weil sie im Besitz der Gewalt war. die ihren Ncsub sicherte und weil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/222>, abgerufen am 26.06.2024.