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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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das Buch unter die Apokryphen verweisen. Noch Luther, dessen gesunder Sinn
ihn so oft zur Inconsequenz gegen seine starren dogmatischen Sätze verführt,
erklärt sich in starken Ausdrücken gegen das Buch, und alle spätern Gelehrten
unbefangenen Sinnes stimmen in dieser Hinsicht mit ihm überein.

Desto höher ist das Buch immer bei den Juden geachtet worden. Es schmeichelte
der Nationaleitelkeit im höchsten Grade, schon weil es einen jüdischen Minister,
eine jüdische Königin, noch dazu von unendlicher Schönheit, und eine schmach¬
volle Niederlage der Feinde enthielt; an einem solchen Bilde erfreute sich das
Volk in seiner Schmach und Erniedrigung, die wilde Rachgier, die das Buch
durchweht, empfanden sie ja alle selbst. Und dazu kam, daß man durch das
Buch eine Urkunde über ein Fest bekam, dessen Feier schon um sich gegriffen
hatte, und dessen Einsetzung man in den heiligen Büchern schmerzlich vermißte.
Das Buch ist daher mit dem Purimfeste zugleich früh angenommen und für
kanonisch gehalten; von Widerstand dagegen haben wir, wie gesagt, nur dunkle
Kunde. Die spätern Juden haben das Buch an Werth unmittelbar neben
den Pentateuch gestellt, über alle die herrlichen Propheten, Dichter und Geschichts-
schreiber! Je trauriger der Zustand Israels war, desto inbrünstiger umfaßte
man das Buch von der jüdischen Königin. Von den Juden ist es den Christen
als kanonisch überliefert worden und steht trotz der vereinzelten Bestrebungen
dagegen noch immer in der h. Schrift.

Der romanhafte Charakter des Buches Esther bewährte sich übrigens noch durch
die wilden Schößlinge, welche es trieb. Die griechische Uebersetzung, welche
nach ^der, leider nicht ganz klaren, Nachschrift wahrscheinlich im Jahre 114")
verfaßt ist, enthält mehrere Zusätze, welche den Charakter der Erzählung zum
Theil nicht unwesentlich verändern. Diese Zusätze zerfallen in zwei Classen:
Wir haben mehre Zusätze inj ebenso hebraisirender Sprache, wie die Ueber¬
setzung des Textes. Ich halte es für nicht unmöglich, daß diese Zusätze einst
auch hebräisch vorhanden waren und von dem Uebersetzer mit dem Original
zugleich übertragen sind. Diese Zusätze sind zum Theil reine Ausschmückungen,
welche den Roman noch mehr verschönern sollten, z. B. der Traum des Mardochai,
der diese Ereignisse der Erzählung vorher abspiegelt, zum Theil aber dienen
sie dazu, einiges Auffällige im Text zu erklären. So ist hier namentlich das
Bestreben sichtbar, etwas Frömmigkeit in das Buch zu bringen, daher wir
denn Gebete Mardochai's und Esthers lesen und den Namen Gottes oft gebraucht
finden; so steht hier auch eine Entschuldigung des unehrerbietigem Benehmens
Mardochai's gegen Haman aus religiösen Gründen. Zum Theil stehn diese
Zusätze übrigens im Widerspruch mit der Geschichte selbst. So heißt es z. B.



*) Der Beweis würde ein weiteres Eingehen in die Geschichte der Ptolcmcicr erfordern,
das hier nicht am Platze ist.

das Buch unter die Apokryphen verweisen. Noch Luther, dessen gesunder Sinn
ihn so oft zur Inconsequenz gegen seine starren dogmatischen Sätze verführt,
erklärt sich in starken Ausdrücken gegen das Buch, und alle spätern Gelehrten
unbefangenen Sinnes stimmen in dieser Hinsicht mit ihm überein.

Desto höher ist das Buch immer bei den Juden geachtet worden. Es schmeichelte
der Nationaleitelkeit im höchsten Grade, schon weil es einen jüdischen Minister,
eine jüdische Königin, noch dazu von unendlicher Schönheit, und eine schmach¬
volle Niederlage der Feinde enthielt; an einem solchen Bilde erfreute sich das
Volk in seiner Schmach und Erniedrigung, die wilde Rachgier, die das Buch
durchweht, empfanden sie ja alle selbst. Und dazu kam, daß man durch das
Buch eine Urkunde über ein Fest bekam, dessen Feier schon um sich gegriffen
hatte, und dessen Einsetzung man in den heiligen Büchern schmerzlich vermißte.
Das Buch ist daher mit dem Purimfeste zugleich früh angenommen und für
kanonisch gehalten; von Widerstand dagegen haben wir, wie gesagt, nur dunkle
Kunde. Die spätern Juden haben das Buch an Werth unmittelbar neben
den Pentateuch gestellt, über alle die herrlichen Propheten, Dichter und Geschichts-
schreiber! Je trauriger der Zustand Israels war, desto inbrünstiger umfaßte
man das Buch von der jüdischen Königin. Von den Juden ist es den Christen
als kanonisch überliefert worden und steht trotz der vereinzelten Bestrebungen
dagegen noch immer in der h. Schrift.

Der romanhafte Charakter des Buches Esther bewährte sich übrigens noch durch
die wilden Schößlinge, welche es trieb. Die griechische Uebersetzung, welche
nach ^der, leider nicht ganz klaren, Nachschrift wahrscheinlich im Jahre 114")
verfaßt ist, enthält mehrere Zusätze, welche den Charakter der Erzählung zum
Theil nicht unwesentlich verändern. Diese Zusätze zerfallen in zwei Classen:
Wir haben mehre Zusätze inj ebenso hebraisirender Sprache, wie die Ueber¬
setzung des Textes. Ich halte es für nicht unmöglich, daß diese Zusätze einst
auch hebräisch vorhanden waren und von dem Uebersetzer mit dem Original
zugleich übertragen sind. Diese Zusätze sind zum Theil reine Ausschmückungen,
welche den Roman noch mehr verschönern sollten, z. B. der Traum des Mardochai,
der diese Ereignisse der Erzählung vorher abspiegelt, zum Theil aber dienen
sie dazu, einiges Auffällige im Text zu erklären. So ist hier namentlich das
Bestreben sichtbar, etwas Frömmigkeit in das Buch zu bringen, daher wir
denn Gebete Mardochai's und Esthers lesen und den Namen Gottes oft gebraucht
finden; so steht hier auch eine Entschuldigung des unehrerbietigem Benehmens
Mardochai's gegen Haman aus religiösen Gründen. Zum Theil stehn diese
Zusätze übrigens im Widerspruch mit der Geschichte selbst. So heißt es z. B.



*) Der Beweis würde ein weiteres Eingehen in die Geschichte der Ptolcmcicr erfordern,
das hier nicht am Platze ist.
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[0139] das Buch unter die Apokryphen verweisen. Noch Luther, dessen gesunder Sinn ihn so oft zur Inconsequenz gegen seine starren dogmatischen Sätze verführt, erklärt sich in starken Ausdrücken gegen das Buch, und alle spätern Gelehrten unbefangenen Sinnes stimmen in dieser Hinsicht mit ihm überein. Desto höher ist das Buch immer bei den Juden geachtet worden. Es schmeichelte der Nationaleitelkeit im höchsten Grade, schon weil es einen jüdischen Minister, eine jüdische Königin, noch dazu von unendlicher Schönheit, und eine schmach¬ volle Niederlage der Feinde enthielt; an einem solchen Bilde erfreute sich das Volk in seiner Schmach und Erniedrigung, die wilde Rachgier, die das Buch durchweht, empfanden sie ja alle selbst. Und dazu kam, daß man durch das Buch eine Urkunde über ein Fest bekam, dessen Feier schon um sich gegriffen hatte, und dessen Einsetzung man in den heiligen Büchern schmerzlich vermißte. Das Buch ist daher mit dem Purimfeste zugleich früh angenommen und für kanonisch gehalten; von Widerstand dagegen haben wir, wie gesagt, nur dunkle Kunde. Die spätern Juden haben das Buch an Werth unmittelbar neben den Pentateuch gestellt, über alle die herrlichen Propheten, Dichter und Geschichts- schreiber! Je trauriger der Zustand Israels war, desto inbrünstiger umfaßte man das Buch von der jüdischen Königin. Von den Juden ist es den Christen als kanonisch überliefert worden und steht trotz der vereinzelten Bestrebungen dagegen noch immer in der h. Schrift. Der romanhafte Charakter des Buches Esther bewährte sich übrigens noch durch die wilden Schößlinge, welche es trieb. Die griechische Uebersetzung, welche nach ^der, leider nicht ganz klaren, Nachschrift wahrscheinlich im Jahre 114") verfaßt ist, enthält mehrere Zusätze, welche den Charakter der Erzählung zum Theil nicht unwesentlich verändern. Diese Zusätze zerfallen in zwei Classen: Wir haben mehre Zusätze inj ebenso hebraisirender Sprache, wie die Ueber¬ setzung des Textes. Ich halte es für nicht unmöglich, daß diese Zusätze einst auch hebräisch vorhanden waren und von dem Uebersetzer mit dem Original zugleich übertragen sind. Diese Zusätze sind zum Theil reine Ausschmückungen, welche den Roman noch mehr verschönern sollten, z. B. der Traum des Mardochai, der diese Ereignisse der Erzählung vorher abspiegelt, zum Theil aber dienen sie dazu, einiges Auffällige im Text zu erklären. So ist hier namentlich das Bestreben sichtbar, etwas Frömmigkeit in das Buch zu bringen, daher wir denn Gebete Mardochai's und Esthers lesen und den Namen Gottes oft gebraucht finden; so steht hier auch eine Entschuldigung des unehrerbietigem Benehmens Mardochai's gegen Haman aus religiösen Gründen. Zum Theil stehn diese Zusätze übrigens im Widerspruch mit der Geschichte selbst. So heißt es z. B. *) Der Beweis würde ein weiteres Eingehen in die Geschichte der Ptolcmcicr erfordern, das hier nicht am Platze ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/139>, abgerufen am 26.06.2024.