Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Mangel alles ethischen und religiösen Geistes in dem Buche mußte
schon früh Anstoß erregen. Man hat bereits bemerkt, daß die einzige Person
desselben, welche sich durchaus untadlig benimmt, die Königin Vasthi ist, welche
sich nicht zu einer rohen Verletzung aller Anstandsrücksichten verstehn und vor
den trunkner Unterthanen ihre Schönheit zeigen will; sie wird dafür verstoßen!
Der König wäre vortrefflich gezeichnet, wenn der Verfasser ihn als Muster
eines unfähigen Despoten hätte schildern wollen, aber das ist gar nicht seine
Absicht; er findet das Benehmen des großen Königs ganz in der Ordnung.
Freilich haben die Morgenländer von jeher nur zu viel Gelegenheit gehabt,
solche Fürsten kennen zu lernen, und wir dürfen daher gar kein Gewicht darauf
legen, daß das hier von Ahasveros entworfene Bild dem uns aus der Geschichte
bekannten des Xerxes sehr ähnlich ist: auf wie viele andre orientalische Fürsten
paßt dasselbe Bild ebenso gut! Esther verscherzt die Anerkennung, die sie durch
ihre Aufopferung für ihr Volk gewinnt, durch ihre wilde Blutgier; namentlich
die Bitte um einen zweiten Tag der Rache ist entsetzlich. An Mardochai könnte
jemand, welcher mit den Sitten des alten Orients nicht bekannt, ist, den
freien Sinn loben, mit dem er dem Haman die demüthigende Begrüßung ver¬
weigert, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein alberner, ganz unmotivirter Trotz.
Denn wenn der freie Grieche die Begrüßung eines Mächtigen durch Nieder¬
werfen des ganzen Körpers für unmännlich hielt, so war eine solche Verehrung
unter den Orientalen seit der Urzeit ganz bekannt; die alten hebräischen Ge¬
schichtsbücher setzen diese Sitte überall voraus, und die Verweigerung der
Proskynesis gegen Haman neben dem Königspalast bedeutet etwa soviel, als
wollte jemand unter uns in der Antichambre des Fürsten vor seinem
höchsten Minister den Hut auf dem Kopf behalten. Im alten Orient wäre
einem, der sich wie Mardochai benommen hätte, sofort der Kopf zu den Füßen
gelegt worden und kein Huhn und Hahn hätte darnach gekräht. Die blutige
Rachgier theilt dieser Held unsrer Geschichte mit der Hauptheldin.

Von echt religiösem Sinn ist im Buch Esther keine Spur vorhanden. Daß
die Juden fasten, als sie das ihnen bevorstehende Unglück vernhmen, ist die einzige
Andeutung von Religion. Die herrliche religiöse Begeisterung, welche nicht
blos die prophetischen, sondern auch die poetischen und geschichtlichen Bücher
des Alten Testaments durchweht, ist hier ganz der nationalen Selbstsucht und
dem Haß gegen die Fremden gewichen. Es ist schon oft bemerkt, daß in dem
ganzen Buche das Wort "Gott" nicht vorkommt; bei einem Buche, das zur
Empfehlung eines religiösen Festes geschrieben ist, ist das wahrlich bezeichnend!

Aus diesen Gründen ist es zu erklären, daß die Heiligkeit und Göttlichkeit
des Buches Esther von Alters her wiederholt bezweifelt ist. Von Widerstand
innerhalb der jüdischen Gemeinden haben wir nur dünne Kunde, aber aus
den ersten christlichen Jahrhunderten haben wir ausdrückliche Zeugnisse, welche


Der Mangel alles ethischen und religiösen Geistes in dem Buche mußte
schon früh Anstoß erregen. Man hat bereits bemerkt, daß die einzige Person
desselben, welche sich durchaus untadlig benimmt, die Königin Vasthi ist, welche
sich nicht zu einer rohen Verletzung aller Anstandsrücksichten verstehn und vor
den trunkner Unterthanen ihre Schönheit zeigen will; sie wird dafür verstoßen!
Der König wäre vortrefflich gezeichnet, wenn der Verfasser ihn als Muster
eines unfähigen Despoten hätte schildern wollen, aber das ist gar nicht seine
Absicht; er findet das Benehmen des großen Königs ganz in der Ordnung.
Freilich haben die Morgenländer von jeher nur zu viel Gelegenheit gehabt,
solche Fürsten kennen zu lernen, und wir dürfen daher gar kein Gewicht darauf
legen, daß das hier von Ahasveros entworfene Bild dem uns aus der Geschichte
bekannten des Xerxes sehr ähnlich ist: auf wie viele andre orientalische Fürsten
paßt dasselbe Bild ebenso gut! Esther verscherzt die Anerkennung, die sie durch
ihre Aufopferung für ihr Volk gewinnt, durch ihre wilde Blutgier; namentlich
die Bitte um einen zweiten Tag der Rache ist entsetzlich. An Mardochai könnte
jemand, welcher mit den Sitten des alten Orients nicht bekannt, ist, den
freien Sinn loben, mit dem er dem Haman die demüthigende Begrüßung ver¬
weigert, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein alberner, ganz unmotivirter Trotz.
Denn wenn der freie Grieche die Begrüßung eines Mächtigen durch Nieder¬
werfen des ganzen Körpers für unmännlich hielt, so war eine solche Verehrung
unter den Orientalen seit der Urzeit ganz bekannt; die alten hebräischen Ge¬
schichtsbücher setzen diese Sitte überall voraus, und die Verweigerung der
Proskynesis gegen Haman neben dem Königspalast bedeutet etwa soviel, als
wollte jemand unter uns in der Antichambre des Fürsten vor seinem
höchsten Minister den Hut auf dem Kopf behalten. Im alten Orient wäre
einem, der sich wie Mardochai benommen hätte, sofort der Kopf zu den Füßen
gelegt worden und kein Huhn und Hahn hätte darnach gekräht. Die blutige
Rachgier theilt dieser Held unsrer Geschichte mit der Hauptheldin.

Von echt religiösem Sinn ist im Buch Esther keine Spur vorhanden. Daß
die Juden fasten, als sie das ihnen bevorstehende Unglück vernhmen, ist die einzige
Andeutung von Religion. Die herrliche religiöse Begeisterung, welche nicht
blos die prophetischen, sondern auch die poetischen und geschichtlichen Bücher
des Alten Testaments durchweht, ist hier ganz der nationalen Selbstsucht und
dem Haß gegen die Fremden gewichen. Es ist schon oft bemerkt, daß in dem
ganzen Buche das Wort „Gott" nicht vorkommt; bei einem Buche, das zur
Empfehlung eines religiösen Festes geschrieben ist, ist das wahrlich bezeichnend!

Aus diesen Gründen ist es zu erklären, daß die Heiligkeit und Göttlichkeit
des Buches Esther von Alters her wiederholt bezweifelt ist. Von Widerstand
innerhalb der jüdischen Gemeinden haben wir nur dünne Kunde, aber aus
den ersten christlichen Jahrhunderten haben wir ausdrückliche Zeugnisse, welche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282935"/>
            <p xml:id="ID_422"> Der Mangel alles ethischen und religiösen Geistes in dem Buche mußte<lb/>
schon früh Anstoß erregen. Man hat bereits bemerkt, daß die einzige Person<lb/>
desselben, welche sich durchaus untadlig benimmt, die Königin Vasthi ist, welche<lb/>
sich nicht zu einer rohen Verletzung aller Anstandsrücksichten verstehn und vor<lb/>
den trunkner Unterthanen ihre Schönheit zeigen will; sie wird dafür verstoßen!<lb/>
Der König wäre vortrefflich gezeichnet, wenn der Verfasser ihn als Muster<lb/>
eines unfähigen Despoten hätte schildern wollen, aber das ist gar nicht seine<lb/>
Absicht; er findet das Benehmen des großen Königs ganz in der Ordnung.<lb/>
Freilich haben die Morgenländer von jeher nur zu viel Gelegenheit gehabt,<lb/>
solche Fürsten kennen zu lernen, und wir dürfen daher gar kein Gewicht darauf<lb/>
legen, daß das hier von Ahasveros entworfene Bild dem uns aus der Geschichte<lb/>
bekannten des Xerxes sehr ähnlich ist: auf wie viele andre orientalische Fürsten<lb/>
paßt dasselbe Bild ebenso gut! Esther verscherzt die Anerkennung, die sie durch<lb/>
ihre Aufopferung für ihr Volk gewinnt, durch ihre wilde Blutgier; namentlich<lb/>
die Bitte um einen zweiten Tag der Rache ist entsetzlich. An Mardochai könnte<lb/>
jemand, welcher mit den Sitten des alten Orients nicht bekannt, ist, den<lb/>
freien Sinn loben, mit dem er dem Haman die demüthigende Begrüßung ver¬<lb/>
weigert, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein alberner, ganz unmotivirter Trotz.<lb/>
Denn wenn der freie Grieche die Begrüßung eines Mächtigen durch Nieder¬<lb/>
werfen des ganzen Körpers für unmännlich hielt, so war eine solche Verehrung<lb/>
unter den Orientalen seit der Urzeit ganz bekannt; die alten hebräischen Ge¬<lb/>
schichtsbücher setzen diese Sitte überall voraus, und die Verweigerung der<lb/>
Proskynesis gegen Haman neben dem Königspalast bedeutet etwa soviel, als<lb/>
wollte jemand unter uns in der Antichambre des Fürsten vor seinem<lb/>
höchsten Minister den Hut auf dem Kopf behalten. Im alten Orient wäre<lb/>
einem, der sich wie Mardochai benommen hätte, sofort der Kopf zu den Füßen<lb/>
gelegt worden und kein Huhn und Hahn hätte darnach gekräht. Die blutige<lb/>
Rachgier theilt dieser Held unsrer Geschichte mit der Hauptheldin.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_423"> Von echt religiösem Sinn ist im Buch Esther keine Spur vorhanden. Daß<lb/>
die Juden fasten, als sie das ihnen bevorstehende Unglück vernhmen, ist die einzige<lb/>
Andeutung von Religion. Die herrliche religiöse Begeisterung, welche nicht<lb/>
blos die prophetischen, sondern auch die poetischen und geschichtlichen Bücher<lb/>
des Alten Testaments durchweht, ist hier ganz der nationalen Selbstsucht und<lb/>
dem Haß gegen die Fremden gewichen. Es ist schon oft bemerkt, daß in dem<lb/>
ganzen Buche das Wort &#x201E;Gott" nicht vorkommt; bei einem Buche, das zur<lb/>
Empfehlung eines religiösen Festes geschrieben ist, ist das wahrlich bezeichnend!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_424" next="#ID_425"> Aus diesen Gründen ist es zu erklären, daß die Heiligkeit und Göttlichkeit<lb/>
des Buches Esther von Alters her wiederholt bezweifelt ist. Von Widerstand<lb/>
innerhalb der jüdischen Gemeinden haben wir nur dünne Kunde, aber aus<lb/>
den ersten christlichen Jahrhunderten haben wir ausdrückliche Zeugnisse, welche</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] Der Mangel alles ethischen und religiösen Geistes in dem Buche mußte schon früh Anstoß erregen. Man hat bereits bemerkt, daß die einzige Person desselben, welche sich durchaus untadlig benimmt, die Königin Vasthi ist, welche sich nicht zu einer rohen Verletzung aller Anstandsrücksichten verstehn und vor den trunkner Unterthanen ihre Schönheit zeigen will; sie wird dafür verstoßen! Der König wäre vortrefflich gezeichnet, wenn der Verfasser ihn als Muster eines unfähigen Despoten hätte schildern wollen, aber das ist gar nicht seine Absicht; er findet das Benehmen des großen Königs ganz in der Ordnung. Freilich haben die Morgenländer von jeher nur zu viel Gelegenheit gehabt, solche Fürsten kennen zu lernen, und wir dürfen daher gar kein Gewicht darauf legen, daß das hier von Ahasveros entworfene Bild dem uns aus der Geschichte bekannten des Xerxes sehr ähnlich ist: auf wie viele andre orientalische Fürsten paßt dasselbe Bild ebenso gut! Esther verscherzt die Anerkennung, die sie durch ihre Aufopferung für ihr Volk gewinnt, durch ihre wilde Blutgier; namentlich die Bitte um einen zweiten Tag der Rache ist entsetzlich. An Mardochai könnte jemand, welcher mit den Sitten des alten Orients nicht bekannt, ist, den freien Sinn loben, mit dem er dem Haman die demüthigende Begrüßung ver¬ weigert, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein alberner, ganz unmotivirter Trotz. Denn wenn der freie Grieche die Begrüßung eines Mächtigen durch Nieder¬ werfen des ganzen Körpers für unmännlich hielt, so war eine solche Verehrung unter den Orientalen seit der Urzeit ganz bekannt; die alten hebräischen Ge¬ schichtsbücher setzen diese Sitte überall voraus, und die Verweigerung der Proskynesis gegen Haman neben dem Königspalast bedeutet etwa soviel, als wollte jemand unter uns in der Antichambre des Fürsten vor seinem höchsten Minister den Hut auf dem Kopf behalten. Im alten Orient wäre einem, der sich wie Mardochai benommen hätte, sofort der Kopf zu den Füßen gelegt worden und kein Huhn und Hahn hätte darnach gekräht. Die blutige Rachgier theilt dieser Held unsrer Geschichte mit der Hauptheldin. Von echt religiösem Sinn ist im Buch Esther keine Spur vorhanden. Daß die Juden fasten, als sie das ihnen bevorstehende Unglück vernhmen, ist die einzige Andeutung von Religion. Die herrliche religiöse Begeisterung, welche nicht blos die prophetischen, sondern auch die poetischen und geschichtlichen Bücher des Alten Testaments durchweht, ist hier ganz der nationalen Selbstsucht und dem Haß gegen die Fremden gewichen. Es ist schon oft bemerkt, daß in dem ganzen Buche das Wort „Gott" nicht vorkommt; bei einem Buche, das zur Empfehlung eines religiösen Festes geschrieben ist, ist das wahrlich bezeichnend! Aus diesen Gründen ist es zu erklären, daß die Heiligkeit und Göttlichkeit des Buches Esther von Alters her wiederholt bezweifelt ist. Von Widerstand innerhalb der jüdischen Gemeinden haben wir nur dünne Kunde, aber aus den ersten christlichen Jahrhunderten haben wir ausdrückliche Zeugnisse, welche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/138>, abgerufen am 12.12.2024.