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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Angst noch die Unschicklichkeit begeht, der Königin, die er um sein Leben bitten
will, zu nahe zu kommen, befiehlt der König, ihn sogleich an den Galgen zu
hängen, den er für Mardochai ausgerichtet. Letzterer wird an seiner Statt oberster
Minister. Aufs neue wagt die Königin ihr Leben, indem sie sich ungerufen
zum König begiebt, um ihn um Rettung für ihr Volk anzuflehn. Dieser giebt
ihr und Haman Vollmacht, in dieser'Sache zu beschließen, was ihnen gut
dünkt. So erlassen sie denn ein Edict im Namen und mit dem Siegel des
Königs, daß die Juden gerade an dem zur Vertilgung angesetzten Tage, dem
13. Adar, alle ihre Feinde mit Weib und Kind ausrotten und ihre Habe plündern
sollen. Dies Edict erregt überall Schrecken; viele gehn aus Furcht zum Juden-
thum über. Von den königlichen Beamten unterstützt metzeln die Juden 73,000
Feinde im ganzen Reich nieder, berühren aber die Beute nicht. In Susan
selbst tödten sie S00 und, da der König der Esther einen zweiten Tag der Rache
bewilligt, am 14. Adar noch fernere 300 Mann; die am ersten Tag getödteten
Söhne Hamans werden an den Galgen gehängt.

Der Tag nach der Metzelei wird als Freudenfest gefeiert, und auf Mardo-
chais und Esthers Anordnung soll dieses Fest später immer gefeiert werden, den
14. auf dem Lande, den Is. in den Städten. Das Fest wird Purim, die
"Loose". genannt, weil Haman den Vertilgungstag durchs Loos bestimmt hatte.

Mardochai schreibt die Geschichte aus. Ein kurzes Schlußwort hebt noch
die Macht des Königs Ahasveros hervor.

Dies Buch tritt ganz mit der Affectation auf, ein echtes Geschichtswerk
zu sein. Ueberall werden Jahreszahlen und Daten genannt; genaue Angaben
von Zahlen und Namen, die mehrmals in langen Reihen aufgeführt werden,
die Verweisung auf "die Chronik der Könige von Medien und Persien" am
Schluß des Buches, ja sogar die Anfangsworte "Und es geschah", durch welche
das Buch an die historischen Bücher des Alten Testaments angeknüpft werden
soll, sind solche Mittel, den Schein den geschichtlichen Treue hervorzurufen.
Und so hat man sich denn auch seit alten Zeiten täuschen lassen, und unsre
Buchstabengläubigen müssen auch jetzt noch die Geschichtlichkeit des Buches auf¬
rechterhalten, weil es den Juden beliebt hat, es in ihren Kanon aufzu¬
nehmen.

Wie durch und durch unhistorisch aber das Buch ist, geht schon aus unsrer
Analyse hervor, und eine genauere Betrachtung desselben bestätigt die Fabel-
haftigkeit desselben noch mehr. Das Buch wimmelt von UnWahrscheinlichkeiten
und Unmöglichkeiten. Wir wollen nur einige davon auszählen. Mardochai,
welcher nach 2, 6 mit König Jojachin (kurz nach 600 v. Chr. Geb.) von
Jerusalem ins Exil geführt ist, wird im siebenten Jahre des Königs Xerxes
(denn das ist Ahasveros, siehe unten) Minister, also in einem Alter von über
120 Jahren! Wenn der Ausdruck "Oheim" streng zu nehmen ist, so müßte auch


16*

Angst noch die Unschicklichkeit begeht, der Königin, die er um sein Leben bitten
will, zu nahe zu kommen, befiehlt der König, ihn sogleich an den Galgen zu
hängen, den er für Mardochai ausgerichtet. Letzterer wird an seiner Statt oberster
Minister. Aufs neue wagt die Königin ihr Leben, indem sie sich ungerufen
zum König begiebt, um ihn um Rettung für ihr Volk anzuflehn. Dieser giebt
ihr und Haman Vollmacht, in dieser'Sache zu beschließen, was ihnen gut
dünkt. So erlassen sie denn ein Edict im Namen und mit dem Siegel des
Königs, daß die Juden gerade an dem zur Vertilgung angesetzten Tage, dem
13. Adar, alle ihre Feinde mit Weib und Kind ausrotten und ihre Habe plündern
sollen. Dies Edict erregt überall Schrecken; viele gehn aus Furcht zum Juden-
thum über. Von den königlichen Beamten unterstützt metzeln die Juden 73,000
Feinde im ganzen Reich nieder, berühren aber die Beute nicht. In Susan
selbst tödten sie S00 und, da der König der Esther einen zweiten Tag der Rache
bewilligt, am 14. Adar noch fernere 300 Mann; die am ersten Tag getödteten
Söhne Hamans werden an den Galgen gehängt.

Der Tag nach der Metzelei wird als Freudenfest gefeiert, und auf Mardo-
chais und Esthers Anordnung soll dieses Fest später immer gefeiert werden, den
14. auf dem Lande, den Is. in den Städten. Das Fest wird Purim, die
„Loose". genannt, weil Haman den Vertilgungstag durchs Loos bestimmt hatte.

Mardochai schreibt die Geschichte aus. Ein kurzes Schlußwort hebt noch
die Macht des Königs Ahasveros hervor.

Dies Buch tritt ganz mit der Affectation auf, ein echtes Geschichtswerk
zu sein. Ueberall werden Jahreszahlen und Daten genannt; genaue Angaben
von Zahlen und Namen, die mehrmals in langen Reihen aufgeführt werden,
die Verweisung auf „die Chronik der Könige von Medien und Persien" am
Schluß des Buches, ja sogar die Anfangsworte „Und es geschah", durch welche
das Buch an die historischen Bücher des Alten Testaments angeknüpft werden
soll, sind solche Mittel, den Schein den geschichtlichen Treue hervorzurufen.
Und so hat man sich denn auch seit alten Zeiten täuschen lassen, und unsre
Buchstabengläubigen müssen auch jetzt noch die Geschichtlichkeit des Buches auf¬
rechterhalten, weil es den Juden beliebt hat, es in ihren Kanon aufzu¬
nehmen.

Wie durch und durch unhistorisch aber das Buch ist, geht schon aus unsrer
Analyse hervor, und eine genauere Betrachtung desselben bestätigt die Fabel-
haftigkeit desselben noch mehr. Das Buch wimmelt von UnWahrscheinlichkeiten
und Unmöglichkeiten. Wir wollen nur einige davon auszählen. Mardochai,
welcher nach 2, 6 mit König Jojachin (kurz nach 600 v. Chr. Geb.) von
Jerusalem ins Exil geführt ist, wird im siebenten Jahre des Königs Xerxes
(denn das ist Ahasveros, siehe unten) Minister, also in einem Alter von über
120 Jahren! Wenn der Ausdruck „Oheim" streng zu nehmen ist, so müßte auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/135>, abgerufen am 26.06.2024.