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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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bezeichneten Fragen lösen, ohne die allgemeineren politischen und culturhistorischen
Verhältnisse und Verknüpfungen zu berücksichtigen? Ebenso verdanken auch eine
ganze Reihe andrer Fragen aus der Kunstgeschichte der lebendigen Thätigkeit
innerhalb der verwandten Zweige der Wissenschaft ihre Anregung und zum
Theil die Möglichkeit ihrer Lösung. Längst war es anerkannt, daß in der Ge¬
schichte Griechenlands die Stammesunterschiede, namentlich der Gegensatz
des dorischen und ionischen Stammes, eines der allerwescntlichsien Momente
bilden; der Gegensatz tritt nicht allein in der äußeren Geschichte hervor, sondern
ebenso in allen Einrichtungen und Gebräuchen. Allmälig entdeckte man ihn
auch in der Literatur als nicht minder wirksam: den beweglicheren, feineren,
für die Außenwelt und ihre Eindrücke empfänglicherer Sinn der Jonier gegen¬
über der Abgeschlossenheit, dem Ernst und der Tiefe, aber auch der Härte und
Schwerfälligkeit des dorischen Stammes, endlich die Auflösung der Gegensätze
bei den am reichsten begabten Attikern. Was sich früher nur vermuthen ließ
haben die neueren Entdeckungen uns sichtbar vor Augen geführt, daß dieselben
Gegensätze auch die Entwicklung der Kunst bedingen, Der plumpen Unbeholfen-
heit der sicilischen Sculpturen, welche sich neuerdings ebenso in altertümlichen
Werken des dorischen Griechenlands wiedergefunden hat, stellt die feine Anmuth
und Zierlichkeit altattischer und altivnischcr Werke, wie des sogenannten Harpyicn-
monuments von Xanthos, gegenüber. In Aigina erreicht der dorische sei
in vollendeter lebensvoller Darstellung des Körpers seine höchste Blüthe, indessen das
Gesicht noch in althergebrachter Starrheit verharrt; in Athen entwickelt sich
theils die feine Behandlung des Gewandes, theils das schwierigste aber auch
Höchste der Kunst, die Darstellung des Inneren durch den Ausdruck des Gesichts.
Ja noch in der höchsten Blüthezeit der Kunst ist der Dorier Polytleitos mit
seiner Schule vorzugsweise thätig, die Schönheit des jugendlichen .Körpers in
den mannigfachsten Variationen zum Ausdruck zu bringen, während aus der
attischen Schule ein Götterideal nach dem andern hervorgeht, eine große ge¬
dankenvolle Komposition der andern folgt. Nicht ganz so deutlich läßt sich der
Gegensatz in der Malerei verfolgen (wo auch die Schulzusammenhänge stärker
in einander greifen), obgleich die Alten ihn hier bestimmt erkannten. Die
hauptsächlichen Anregungen scheinen auch hiervon Jonien und Attika ausgegangen
zu sein, wogegen bei den Doriern die Tendenz auf das Lehrbare, bis zur Ein¬
führung des Zeichenunterrichts in die Schulen, vorherrschte. Wie der Gegensatz
in der Baukunst zu Tage tritt, bedarf nur einer Andeutung, und gerade hier
Zeigt sich das Vermittelnde, die Gegensätze Abschleifende des attischen Charakters
besonders deutlich in der Ausbildung, welche sowohl der dorische wie der ionische
Stil in Athen erhalten hat.

Vielleicht am allernächsten von allen Zweigen der Alterthumswissenschaft
ist mit der Archäologie die Mythologie verbunden. Wiederum ist es Winckel-


bezeichneten Fragen lösen, ohne die allgemeineren politischen und culturhistorischen
Verhältnisse und Verknüpfungen zu berücksichtigen? Ebenso verdanken auch eine
ganze Reihe andrer Fragen aus der Kunstgeschichte der lebendigen Thätigkeit
innerhalb der verwandten Zweige der Wissenschaft ihre Anregung und zum
Theil die Möglichkeit ihrer Lösung. Längst war es anerkannt, daß in der Ge¬
schichte Griechenlands die Stammesunterschiede, namentlich der Gegensatz
des dorischen und ionischen Stammes, eines der allerwescntlichsien Momente
bilden; der Gegensatz tritt nicht allein in der äußeren Geschichte hervor, sondern
ebenso in allen Einrichtungen und Gebräuchen. Allmälig entdeckte man ihn
auch in der Literatur als nicht minder wirksam: den beweglicheren, feineren,
für die Außenwelt und ihre Eindrücke empfänglicherer Sinn der Jonier gegen¬
über der Abgeschlossenheit, dem Ernst und der Tiefe, aber auch der Härte und
Schwerfälligkeit des dorischen Stammes, endlich die Auflösung der Gegensätze
bei den am reichsten begabten Attikern. Was sich früher nur vermuthen ließ
haben die neueren Entdeckungen uns sichtbar vor Augen geführt, daß dieselben
Gegensätze auch die Entwicklung der Kunst bedingen, Der plumpen Unbeholfen-
heit der sicilischen Sculpturen, welche sich neuerdings ebenso in altertümlichen
Werken des dorischen Griechenlands wiedergefunden hat, stellt die feine Anmuth
und Zierlichkeit altattischer und altivnischcr Werke, wie des sogenannten Harpyicn-
monuments von Xanthos, gegenüber. In Aigina erreicht der dorische sei
in vollendeter lebensvoller Darstellung des Körpers seine höchste Blüthe, indessen das
Gesicht noch in althergebrachter Starrheit verharrt; in Athen entwickelt sich
theils die feine Behandlung des Gewandes, theils das schwierigste aber auch
Höchste der Kunst, die Darstellung des Inneren durch den Ausdruck des Gesichts.
Ja noch in der höchsten Blüthezeit der Kunst ist der Dorier Polytleitos mit
seiner Schule vorzugsweise thätig, die Schönheit des jugendlichen .Körpers in
den mannigfachsten Variationen zum Ausdruck zu bringen, während aus der
attischen Schule ein Götterideal nach dem andern hervorgeht, eine große ge¬
dankenvolle Komposition der andern folgt. Nicht ganz so deutlich läßt sich der
Gegensatz in der Malerei verfolgen (wo auch die Schulzusammenhänge stärker
in einander greifen), obgleich die Alten ihn hier bestimmt erkannten. Die
hauptsächlichen Anregungen scheinen auch hiervon Jonien und Attika ausgegangen
zu sein, wogegen bei den Doriern die Tendenz auf das Lehrbare, bis zur Ein¬
führung des Zeichenunterrichts in die Schulen, vorherrschte. Wie der Gegensatz
in der Baukunst zu Tage tritt, bedarf nur einer Andeutung, und gerade hier
Zeigt sich das Vermittelnde, die Gegensätze Abschleifende des attischen Charakters
besonders deutlich in der Ausbildung, welche sowohl der dorische wie der ionische
Stil in Athen erhalten hat.

Vielleicht am allernächsten von allen Zweigen der Alterthumswissenschaft
ist mit der Archäologie die Mythologie verbunden. Wiederum ist es Winckel-


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[0063] bezeichneten Fragen lösen, ohne die allgemeineren politischen und culturhistorischen Verhältnisse und Verknüpfungen zu berücksichtigen? Ebenso verdanken auch eine ganze Reihe andrer Fragen aus der Kunstgeschichte der lebendigen Thätigkeit innerhalb der verwandten Zweige der Wissenschaft ihre Anregung und zum Theil die Möglichkeit ihrer Lösung. Längst war es anerkannt, daß in der Ge¬ schichte Griechenlands die Stammesunterschiede, namentlich der Gegensatz des dorischen und ionischen Stammes, eines der allerwescntlichsien Momente bilden; der Gegensatz tritt nicht allein in der äußeren Geschichte hervor, sondern ebenso in allen Einrichtungen und Gebräuchen. Allmälig entdeckte man ihn auch in der Literatur als nicht minder wirksam: den beweglicheren, feineren, für die Außenwelt und ihre Eindrücke empfänglicherer Sinn der Jonier gegen¬ über der Abgeschlossenheit, dem Ernst und der Tiefe, aber auch der Härte und Schwerfälligkeit des dorischen Stammes, endlich die Auflösung der Gegensätze bei den am reichsten begabten Attikern. Was sich früher nur vermuthen ließ haben die neueren Entdeckungen uns sichtbar vor Augen geführt, daß dieselben Gegensätze auch die Entwicklung der Kunst bedingen, Der plumpen Unbeholfen- heit der sicilischen Sculpturen, welche sich neuerdings ebenso in altertümlichen Werken des dorischen Griechenlands wiedergefunden hat, stellt die feine Anmuth und Zierlichkeit altattischer und altivnischcr Werke, wie des sogenannten Harpyicn- monuments von Xanthos, gegenüber. In Aigina erreicht der dorische sei in vollendeter lebensvoller Darstellung des Körpers seine höchste Blüthe, indessen das Gesicht noch in althergebrachter Starrheit verharrt; in Athen entwickelt sich theils die feine Behandlung des Gewandes, theils das schwierigste aber auch Höchste der Kunst, die Darstellung des Inneren durch den Ausdruck des Gesichts. Ja noch in der höchsten Blüthezeit der Kunst ist der Dorier Polytleitos mit seiner Schule vorzugsweise thätig, die Schönheit des jugendlichen .Körpers in den mannigfachsten Variationen zum Ausdruck zu bringen, während aus der attischen Schule ein Götterideal nach dem andern hervorgeht, eine große ge¬ dankenvolle Komposition der andern folgt. Nicht ganz so deutlich läßt sich der Gegensatz in der Malerei verfolgen (wo auch die Schulzusammenhänge stärker in einander greifen), obgleich die Alten ihn hier bestimmt erkannten. Die hauptsächlichen Anregungen scheinen auch hiervon Jonien und Attika ausgegangen zu sein, wogegen bei den Doriern die Tendenz auf das Lehrbare, bis zur Ein¬ führung des Zeichenunterrichts in die Schulen, vorherrschte. Wie der Gegensatz in der Baukunst zu Tage tritt, bedarf nur einer Andeutung, und gerade hier Zeigt sich das Vermittelnde, die Gegensätze Abschleifende des attischen Charakters besonders deutlich in der Ausbildung, welche sowohl der dorische wie der ionische Stil in Athen erhalten hat. Vielleicht am allernächsten von allen Zweigen der Alterthumswissenschaft ist mit der Archäologie die Mythologie verbunden. Wiederum ist es Winckel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/63>, abgerufen am 23.07.2024.