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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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geltenden Staatsrecht zurückbleibt. So ist z. B. jedem einzelnen Bürger das
Petitionsrecht gewährleistet; allein man hat neuerdings erfahren müssen, wie
die Stadtverordnetenversammlungen mit Strafen verfolgt wurden, als sie auch
ihrerseits von dem Petitionsrechte Gebrauch zu machen unternahmen. Die Ge¬
schichte zeigt uns überall die Gemeinden und Corporationen als natürliche Ver-
treter und Sprecher in den allgemeinen Landesangelegenheiten, und es ist eine
arge Jnconvenienz, wenn das Petitionsrecht, welches dem einzelnen Bürger
zusteht, der Vertretung einer ganzen Gemeinde in allgemeinen Staatsangelegen¬
heiten streitig gemacht wird. Was aber den Fall anbetrifft, durch welchen in
Preußen die ganze Frage auf die Tagesordnung kam, so kann man sich nicht
genug wundern, daß gerade die Partei, welche die organische Vertretung stets
im Munde führt und gegen die individuelle und atomistische Repräsentation
declamirt, diesmal eine ganz andere Auffassung der Sache beliebte. Wenn man
wirklich den Gemeinden verbieten will, außer in reinen Communalangelegen¬
heiten weder zu berathen und zu beschließen noch als einheitliche Körperschaft
zu handeln, warum nimmt man dann ihre Kundgebungen zu erfreulichen
Staatsereignissen an? Offenbar ist es eine engherzige Auslegung, welche An¬
stand nimmt, die Consequenzen der Verfassungsparagraphen zu ziehen und es
selbstverständlich zu finden, daß das Petitionsrecht des Einzelnen auch dasjenige
der Gemeinden einschließe. Was aber das Schlimmere ist: ist dieses be¬
schränkte Auslegungsprincip so zu sagen selbst geltendes Recht. Angesichts der
Grundsätze des Obertribunals, denen zufolge eine Menge Versassungspara-
graphen zu leitenden Principien einer künftigen Gesetzgebung herabgesetzt und
in ihrer Eigenschaft als Rechtssätze geschwächt werden, ist es ganz unmög¬
lich, in einzelnen Theilen des bestehenden Rechtszustandes einen freieren Ge¬
sichtspunkt eintreten zu lassen. Ueberall und durchgängig zeigt sich der
Widerstreit der neuen allgemeinen Grundsätze und der überlieferten Einzel¬
bestimmungen und kann in der That in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen
einen Entschuldigungsgrund für die erwähnte Verfahrungsart des höchsten Ge¬
richtshofes abgeben. Man hat oft nur die Wahl, die Auslegung und logische
Consequenzenziehung ungehörig in Gesetzgebung umschlagen zu lassen, oder aber
gänzlich auf die Geltendmachung principieller Sätze des neuen Staatsrechts
zu verzichten. Soll das bestehende Recht nicht einer nothwendig von entgegen¬
gesetzten Principien verwirrten Dialektik anheimfallen, so muß man meist ganz
von einer principiellen Beleuchtung, Auslegung und Ergänzung der Einzelbestim¬
mungen absehn, oder sich wenigstens hüten, die wissenschaftliche Gestaltung des
Stoffes weiter treiben zu wollen, als die heterogene Beschaffenheit der nun ein¬
mal gegebenen Mischbildungen erlaubt. -- Wir glauben daher, daß der Ver¬
sasser des Stadtrechts auch in diesem wichtigen Punkte das Richtige getroffen
hat. Er bekundet sich durchgängig als ein gewissenhafter und besonnener


geltenden Staatsrecht zurückbleibt. So ist z. B. jedem einzelnen Bürger das
Petitionsrecht gewährleistet; allein man hat neuerdings erfahren müssen, wie
die Stadtverordnetenversammlungen mit Strafen verfolgt wurden, als sie auch
ihrerseits von dem Petitionsrechte Gebrauch zu machen unternahmen. Die Ge¬
schichte zeigt uns überall die Gemeinden und Corporationen als natürliche Ver-
treter und Sprecher in den allgemeinen Landesangelegenheiten, und es ist eine
arge Jnconvenienz, wenn das Petitionsrecht, welches dem einzelnen Bürger
zusteht, der Vertretung einer ganzen Gemeinde in allgemeinen Staatsangelegen¬
heiten streitig gemacht wird. Was aber den Fall anbetrifft, durch welchen in
Preußen die ganze Frage auf die Tagesordnung kam, so kann man sich nicht
genug wundern, daß gerade die Partei, welche die organische Vertretung stets
im Munde führt und gegen die individuelle und atomistische Repräsentation
declamirt, diesmal eine ganz andere Auffassung der Sache beliebte. Wenn man
wirklich den Gemeinden verbieten will, außer in reinen Communalangelegen¬
heiten weder zu berathen und zu beschließen noch als einheitliche Körperschaft
zu handeln, warum nimmt man dann ihre Kundgebungen zu erfreulichen
Staatsereignissen an? Offenbar ist es eine engherzige Auslegung, welche An¬
stand nimmt, die Consequenzen der Verfassungsparagraphen zu ziehen und es
selbstverständlich zu finden, daß das Petitionsrecht des Einzelnen auch dasjenige
der Gemeinden einschließe. Was aber das Schlimmere ist: ist dieses be¬
schränkte Auslegungsprincip so zu sagen selbst geltendes Recht. Angesichts der
Grundsätze des Obertribunals, denen zufolge eine Menge Versassungspara-
graphen zu leitenden Principien einer künftigen Gesetzgebung herabgesetzt und
in ihrer Eigenschaft als Rechtssätze geschwächt werden, ist es ganz unmög¬
lich, in einzelnen Theilen des bestehenden Rechtszustandes einen freieren Ge¬
sichtspunkt eintreten zu lassen. Ueberall und durchgängig zeigt sich der
Widerstreit der neuen allgemeinen Grundsätze und der überlieferten Einzel¬
bestimmungen und kann in der That in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen
einen Entschuldigungsgrund für die erwähnte Verfahrungsart des höchsten Ge¬
richtshofes abgeben. Man hat oft nur die Wahl, die Auslegung und logische
Consequenzenziehung ungehörig in Gesetzgebung umschlagen zu lassen, oder aber
gänzlich auf die Geltendmachung principieller Sätze des neuen Staatsrechts
zu verzichten. Soll das bestehende Recht nicht einer nothwendig von entgegen¬
gesetzten Principien verwirrten Dialektik anheimfallen, so muß man meist ganz
von einer principiellen Beleuchtung, Auslegung und Ergänzung der Einzelbestim¬
mungen absehn, oder sich wenigstens hüten, die wissenschaftliche Gestaltung des
Stoffes weiter treiben zu wollen, als die heterogene Beschaffenheit der nun ein¬
mal gegebenen Mischbildungen erlaubt. — Wir glauben daher, daß der Ver¬
sasser des Stadtrechts auch in diesem wichtigen Punkte das Richtige getroffen
hat. Er bekundet sich durchgängig als ein gewissenhafter und besonnener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/432>, abgerufen am 23.07.2024.