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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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"Und dem Volke gilt es, auf ein Mal die Qual der Schulden zu tilgen,
und ein für alle Mal; das Volk steht auf gegen die Juden. Am Ende des
dreizehnten Jahrhunderts, dann in der Mitte des vierzehnten, dann in immer
neuen Wallungen dieses und das folgende Jahrhundert hindurch fällt die
Volksmasse rasend über die Judenvicrtcl der Städte her, vornehmlich in Süd-
und Westdeutschland, dann auch in Mitteldeutschland, zuerst die Schaar der
gequälten Schuldner, dann die von Pest und Glaubenshaß zugleich getriebene
Masse des fieberhaft erregten Volkes. Mit Wollust wüthen sie gegen ihre
schirmberaubten, halb schuldlosen Opfer, Die Verfolger selbst machten die
Gläubiger sich zur erdrückenden Last, nun sollen diese es büßen. Welch ein
Hohn christlicher Gerechtigkeit, christlicher Liebe! Sie plündern, rauben er¬
barmungslos, den Wucher auszugleichen, sie stoßen ihre Feinde in die Ver¬
bannung hinaus, sie martern, sie morden die Uebelthäter und ihr ganzes Ge¬
schlecht. Sie zerreißen ihre Schuldurkunden, sie löschen die Summen mit des
Gläubigers Blute, mit seinem Leben zahlen sie die Zinsen. Die großen, die
grenzenlosen Summen, ruft der Chronist, welche Adel und Herr, Bürger und
Bauern ihnen schuldeten, das war der Juden Verderben!

"Die Machthaber gedachten der Hilfe, welche sie von den Juden bedurften,
mit harten Strafen züchtigten sie den Aufstand. Vergebens! Je mehr die Juden
verloren, desto mehr mußten sie in Zinsen wiedergewinnen. Bon Neuem stürzte
das Volk sich auf die Verhaßten. Die Behörden setzten die Zinsen, die Capi¬
talien, den Zinsfuß herab, sie verkürzten die Schuldposten. Aber für alle Zeit
wollen die Schuldner der Bedrängniß los sein. Die Gesetzgeber verboten den
Juden jeden Wucher, verboten, Recht zu sprechen über Zinsen, untersagten, die
gesprochenen Urtheile auszuführen; jeder Richter, jeder Bürger sollte verpflichtet
sein und berechtigt, den Wucher der Juden vor Gericht zu ziehn; jeden Verkehr
zwischen Juden und Christen verboten sie, der nicht vor dem Richter stattfand
oder für die nöthigsten Bedürfnisse, oder auf offnen Märkten. Ja. aus ihren
Gebieten Vertrieben sie die Unseligen.

"Aber wieder und wieder kehrten diese zurück und wucherten von Neuem.
Die Christen selbst, durch ihre Lage genöthigt, durch die Gesetze nicht genügend
zurückgehalten, begannen mit ihnen jenseits der Landesgrcnzen die alten Ge¬
schäfte. Wo sollten sie sonst darleihen? Die schmählich Vertriebenen riefen sie
zurück und ihre Wucherklagen begannen wieder. Wo die Particulargerichte den
armen Gläubigern das Urtheil verweigerten, verklagten sie ihre Schuldner bei
dem nächsten kaiserlichen Gerichtshofe. Die Schuldner wurden verurtheilt;
da sie ihr heimisches Gebiet überschritten, strafte man sie mit der Acht. Und
wieder reformirte man die Gesetze, im nächsten Augenblicke schon waren sie
den reißend fluthenden Ereignissen nicht mehr gewachsen. Mit härtesten Stra¬
fen bedrohte man wuchernde Juden und ungehorsame Christen. Es fruchtete


Grenzboten I. 18Kö, 23

„Und dem Volke gilt es, auf ein Mal die Qual der Schulden zu tilgen,
und ein für alle Mal; das Volk steht auf gegen die Juden. Am Ende des
dreizehnten Jahrhunderts, dann in der Mitte des vierzehnten, dann in immer
neuen Wallungen dieses und das folgende Jahrhundert hindurch fällt die
Volksmasse rasend über die Judenvicrtcl der Städte her, vornehmlich in Süd-
und Westdeutschland, dann auch in Mitteldeutschland, zuerst die Schaar der
gequälten Schuldner, dann die von Pest und Glaubenshaß zugleich getriebene
Masse des fieberhaft erregten Volkes. Mit Wollust wüthen sie gegen ihre
schirmberaubten, halb schuldlosen Opfer, Die Verfolger selbst machten die
Gläubiger sich zur erdrückenden Last, nun sollen diese es büßen. Welch ein
Hohn christlicher Gerechtigkeit, christlicher Liebe! Sie plündern, rauben er¬
barmungslos, den Wucher auszugleichen, sie stoßen ihre Feinde in die Ver¬
bannung hinaus, sie martern, sie morden die Uebelthäter und ihr ganzes Ge¬
schlecht. Sie zerreißen ihre Schuldurkunden, sie löschen die Summen mit des
Gläubigers Blute, mit seinem Leben zahlen sie die Zinsen. Die großen, die
grenzenlosen Summen, ruft der Chronist, welche Adel und Herr, Bürger und
Bauern ihnen schuldeten, das war der Juden Verderben!

„Die Machthaber gedachten der Hilfe, welche sie von den Juden bedurften,
mit harten Strafen züchtigten sie den Aufstand. Vergebens! Je mehr die Juden
verloren, desto mehr mußten sie in Zinsen wiedergewinnen. Bon Neuem stürzte
das Volk sich auf die Verhaßten. Die Behörden setzten die Zinsen, die Capi¬
talien, den Zinsfuß herab, sie verkürzten die Schuldposten. Aber für alle Zeit
wollen die Schuldner der Bedrängniß los sein. Die Gesetzgeber verboten den
Juden jeden Wucher, verboten, Recht zu sprechen über Zinsen, untersagten, die
gesprochenen Urtheile auszuführen; jeder Richter, jeder Bürger sollte verpflichtet
sein und berechtigt, den Wucher der Juden vor Gericht zu ziehn; jeden Verkehr
zwischen Juden und Christen verboten sie, der nicht vor dem Richter stattfand
oder für die nöthigsten Bedürfnisse, oder auf offnen Märkten. Ja. aus ihren
Gebieten Vertrieben sie die Unseligen.

„Aber wieder und wieder kehrten diese zurück und wucherten von Neuem.
Die Christen selbst, durch ihre Lage genöthigt, durch die Gesetze nicht genügend
zurückgehalten, begannen mit ihnen jenseits der Landesgrcnzen die alten Ge¬
schäfte. Wo sollten sie sonst darleihen? Die schmählich Vertriebenen riefen sie
zurück und ihre Wucherklagen begannen wieder. Wo die Particulargerichte den
armen Gläubigern das Urtheil verweigerten, verklagten sie ihre Schuldner bei
dem nächsten kaiserlichen Gerichtshofe. Die Schuldner wurden verurtheilt;
da sie ihr heimisches Gebiet überschritten, strafte man sie mit der Acht. Und
wieder reformirte man die Gesetze, im nächsten Augenblicke schon waren sie
den reißend fluthenden Ereignissen nicht mehr gewachsen. Mit härtesten Stra¬
fen bedrohte man wuchernde Juden und ungehorsame Christen. Es fruchtete


Grenzboten I. 18Kö, 23
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[0191] „Und dem Volke gilt es, auf ein Mal die Qual der Schulden zu tilgen, und ein für alle Mal; das Volk steht auf gegen die Juden. Am Ende des dreizehnten Jahrhunderts, dann in der Mitte des vierzehnten, dann in immer neuen Wallungen dieses und das folgende Jahrhundert hindurch fällt die Volksmasse rasend über die Judenvicrtcl der Städte her, vornehmlich in Süd- und Westdeutschland, dann auch in Mitteldeutschland, zuerst die Schaar der gequälten Schuldner, dann die von Pest und Glaubenshaß zugleich getriebene Masse des fieberhaft erregten Volkes. Mit Wollust wüthen sie gegen ihre schirmberaubten, halb schuldlosen Opfer, Die Verfolger selbst machten die Gläubiger sich zur erdrückenden Last, nun sollen diese es büßen. Welch ein Hohn christlicher Gerechtigkeit, christlicher Liebe! Sie plündern, rauben er¬ barmungslos, den Wucher auszugleichen, sie stoßen ihre Feinde in die Ver¬ bannung hinaus, sie martern, sie morden die Uebelthäter und ihr ganzes Ge¬ schlecht. Sie zerreißen ihre Schuldurkunden, sie löschen die Summen mit des Gläubigers Blute, mit seinem Leben zahlen sie die Zinsen. Die großen, die grenzenlosen Summen, ruft der Chronist, welche Adel und Herr, Bürger und Bauern ihnen schuldeten, das war der Juden Verderben! „Die Machthaber gedachten der Hilfe, welche sie von den Juden bedurften, mit harten Strafen züchtigten sie den Aufstand. Vergebens! Je mehr die Juden verloren, desto mehr mußten sie in Zinsen wiedergewinnen. Bon Neuem stürzte das Volk sich auf die Verhaßten. Die Behörden setzten die Zinsen, die Capi¬ talien, den Zinsfuß herab, sie verkürzten die Schuldposten. Aber für alle Zeit wollen die Schuldner der Bedrängniß los sein. Die Gesetzgeber verboten den Juden jeden Wucher, verboten, Recht zu sprechen über Zinsen, untersagten, die gesprochenen Urtheile auszuführen; jeder Richter, jeder Bürger sollte verpflichtet sein und berechtigt, den Wucher der Juden vor Gericht zu ziehn; jeden Verkehr zwischen Juden und Christen verboten sie, der nicht vor dem Richter stattfand oder für die nöthigsten Bedürfnisse, oder auf offnen Märkten. Ja. aus ihren Gebieten Vertrieben sie die Unseligen. „Aber wieder und wieder kehrten diese zurück und wucherten von Neuem. Die Christen selbst, durch ihre Lage genöthigt, durch die Gesetze nicht genügend zurückgehalten, begannen mit ihnen jenseits der Landesgrcnzen die alten Ge¬ schäfte. Wo sollten sie sonst darleihen? Die schmählich Vertriebenen riefen sie zurück und ihre Wucherklagen begannen wieder. Wo die Particulargerichte den armen Gläubigern das Urtheil verweigerten, verklagten sie ihre Schuldner bei dem nächsten kaiserlichen Gerichtshofe. Die Schuldner wurden verurtheilt; da sie ihr heimisches Gebiet überschritten, strafte man sie mit der Acht. Und wieder reformirte man die Gesetze, im nächsten Augenblicke schon waren sie den reißend fluthenden Ereignissen nicht mehr gewachsen. Mit härtesten Stra¬ fen bedrohte man wuchernde Juden und ungehorsame Christen. Es fruchtete Grenzboten I. 18Kö, 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/191>, abgerufen am 23.07.2024.