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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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zustellen (ganz abgesehen davon, daß in einer solchen Gegenüberstellung sich
das Bestreben ausspricht, einen Gegensatz hervorzurufen, der in Wirklichkeit
gar nicht existirt). Das ältere Recht existirt eben nur, so weit es der Verfassung
nicht widerspricht. Es ist in dieser Beziehung völlig gleichgültig, ob die Verfassung
von der Krone octroyirt oder "uf vertragsmäßigen Wege zwischen Krone und
Volk vereinbart rst. Auch eine vetroyirte Verfassung, so bald sie einmal von
beiden Seiten anerkannt ist, begründet ein Vertragsverhältniß, welches staats¬
rechtlich nur mit beiderseitiger Uebereinstimmung gelöst oder modificirt werden
kann. Wie man also auch über die Entstehung der preußischen Verfassung ur¬
theilen mag, ob man sie zu den octroyirten, oder wie der Verfasser -- und wir
glauben mit Recht-- es thut, mit Rücksicht auf die bei der ersten Publicirung
vorgehaltene Revision zu den vertragsmäßig zu Stande gekommenen hält,
ihre Geltung ist eine staatsrechtlich absolute.

Aus dieser Bedeutung der Urkunde ergiebt sich als höchster Grundsatz der
Auslegung, daß in erster Linie die Verfassung aus der Verfassung selbst zu
interpretiren ist. Wo also ein Zweifel über einen Paragraphen sich erhebt, ?se,
zunächst der Versuch zu machen, denselben durch die Bestimmungen der Ver¬
fassung selbst zu heben; ebenso wo eine Lücke sich findet, wird dieselbe aus der
Verfassung selbst zu ergänzen sein. Keinesfalls aber ist es statthaft, eine der
Verfassung widersprechende Ergänzung aus dem älteren Rechte eintreten zu lassen.

Daß hierbei die Auslegung sich nicht ausschließlich auf den Buchstaben
beschränken darf, daß sich vielmehr oft das wörtliche Verständniß aus dem
Zusammenhange des Ganzen, aus dem Geiste der Verfassung ergeben wird, ist
selbstverständlich.

Indessen auf den Geist der Verfassung berufen sich alle Parteien, auch die¬
jenigen, welche kein anderes Bestreben haben, als die Verfassung durch die
Verfassung zu zerstören. Es würde also mit dieser Berufung sehr bedenklich
stehen, wenn es keine ganz bestimmten Kriterien gäbe, aus denen dieser Geist
sich unzweideutig erkennen ließe. Solche Kriterien sind aber in der That vor¬
handen. Es giebt nämlich gewisse Grundbestimmungen, an denen man nicht
deuteln kann ohne die Verfassung selbst aufzuheben. Hierhin gehört z. B. das
Recht des Abgeordnetenhauses in der Budgetsache, die der Verfasser, durch die
neuesten Conflicte veranlaßt, in sehr eingehender und überzeugender Weise be¬
leuchtet hat. Man mag über die MUiicirfrage denken, wie man will, man mag
es beklagen, daß sie sich M einer Verfassungsfrage schwerster Bedeutung zugespitzt
hat: das Eine wird man nicht in Abrede stellen können, daß wenn das Ab¬
geordnetenhaus nicht das unbedingte Recht hat, eine Forderung der Negierung
zu verwerfen, es j e d e s Rechtes bei der Feststellung des Budgets entbehrt d. h.
wenn man die entscheidende Bedeutung der Finanzfrage richtig erwägt, über¬
haupt rechtlos ist. Daß ein solches Resultat aber mit dem Geiste der Ve"


zustellen (ganz abgesehen davon, daß in einer solchen Gegenüberstellung sich
das Bestreben ausspricht, einen Gegensatz hervorzurufen, der in Wirklichkeit
gar nicht existirt). Das ältere Recht existirt eben nur, so weit es der Verfassung
nicht widerspricht. Es ist in dieser Beziehung völlig gleichgültig, ob die Verfassung
von der Krone octroyirt oder «uf vertragsmäßigen Wege zwischen Krone und
Volk vereinbart rst. Auch eine vetroyirte Verfassung, so bald sie einmal von
beiden Seiten anerkannt ist, begründet ein Vertragsverhältniß, welches staats¬
rechtlich nur mit beiderseitiger Uebereinstimmung gelöst oder modificirt werden
kann. Wie man also auch über die Entstehung der preußischen Verfassung ur¬
theilen mag, ob man sie zu den octroyirten, oder wie der Verfasser — und wir
glauben mit Recht— es thut, mit Rücksicht auf die bei der ersten Publicirung
vorgehaltene Revision zu den vertragsmäßig zu Stande gekommenen hält,
ihre Geltung ist eine staatsrechtlich absolute.

Aus dieser Bedeutung der Urkunde ergiebt sich als höchster Grundsatz der
Auslegung, daß in erster Linie die Verfassung aus der Verfassung selbst zu
interpretiren ist. Wo also ein Zweifel über einen Paragraphen sich erhebt, ?se,
zunächst der Versuch zu machen, denselben durch die Bestimmungen der Ver¬
fassung selbst zu heben; ebenso wo eine Lücke sich findet, wird dieselbe aus der
Verfassung selbst zu ergänzen sein. Keinesfalls aber ist es statthaft, eine der
Verfassung widersprechende Ergänzung aus dem älteren Rechte eintreten zu lassen.

Daß hierbei die Auslegung sich nicht ausschließlich auf den Buchstaben
beschränken darf, daß sich vielmehr oft das wörtliche Verständniß aus dem
Zusammenhange des Ganzen, aus dem Geiste der Verfassung ergeben wird, ist
selbstverständlich.

Indessen auf den Geist der Verfassung berufen sich alle Parteien, auch die¬
jenigen, welche kein anderes Bestreben haben, als die Verfassung durch die
Verfassung zu zerstören. Es würde also mit dieser Berufung sehr bedenklich
stehen, wenn es keine ganz bestimmten Kriterien gäbe, aus denen dieser Geist
sich unzweideutig erkennen ließe. Solche Kriterien sind aber in der That vor¬
handen. Es giebt nämlich gewisse Grundbestimmungen, an denen man nicht
deuteln kann ohne die Verfassung selbst aufzuheben. Hierhin gehört z. B. das
Recht des Abgeordnetenhauses in der Budgetsache, die der Verfasser, durch die
neuesten Conflicte veranlaßt, in sehr eingehender und überzeugender Weise be¬
leuchtet hat. Man mag über die MUiicirfrage denken, wie man will, man mag
es beklagen, daß sie sich M einer Verfassungsfrage schwerster Bedeutung zugespitzt
hat: das Eine wird man nicht in Abrede stellen können, daß wenn das Ab¬
geordnetenhaus nicht das unbedingte Recht hat, eine Forderung der Negierung
zu verwerfen, es j e d e s Rechtes bei der Feststellung des Budgets entbehrt d. h.
wenn man die entscheidende Bedeutung der Finanzfrage richtig erwägt, über¬
haupt rechtlos ist. Daß ein solches Resultat aber mit dem Geiste der Ve»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/88>, abgerufen am 03.07.2024.