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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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fassung in Widerspruch stehen würde, da es alle übrigen Rechte des Hauses
nichtig und wirkungslos machen würde, liegt auf der Hand.

Gesetzt also, daß, was übrigens durchaus nicht der Fall ist, der Wortlaut
des Artikels 99. eine den Ansichten des Grafen Arnim günstige Auslegung
zuließe, so würde doch eine derartige Interpretation sich aus dem Zusammen¬
hange der Verfassung heraus als irrthümlich erweisen lassen. Natürlich w>rd
die Argumentationsweise, die auf Vergleichung eines einzelnen Falles mit einer
unzweideutigen Grundbestimmung der Verfassung basirt ist, mit der äußersten
Vorsicht und nur da, wo ihre Bündigkeit ganz außer Zweifel steht, angewendet
werden dürfen. Ein besonderer Grund zum maßvollen Gebrauch dieser Jnter-
pretationswcise liegt ferner noch darin, daß sie überaus leicht zu einer sophi¬
stischen und tendenziösen Behandlung des Verfassungsrechtes überhaupt führt,
indem sie unter Umständen ebensowohl zum Angriffe aus die Verfassung als
zur Vertheidigung derselben gebraucht werden kann.

Eine viel überzeugendere Kraft hat aber, und viel weniger bedenklich in
ihren Folgen ist die Argumentation aus der Geschichte der Verfassung, d. b.
aus den Umständen, unter denen eine Bestimmung zum Gesetze erhoben worden
ist, und aus den Verhandlungen, die zur Annahme desselben geführt haben.
Denn in diesen Verhandlungen offenbaren sich die Intentionen des Gesetzgebers,
auf die man vor Allem zurückzugehen hat, wo das Gesetz selbst in seiner Fas¬
sung eine verschiedene Auffassung zuläßt.

Somit bildet eine der allerwichtigsten Quellen der Auslegung die steno¬
graphischen Landtagsverhandiungen, die daher von dem Verfasser auch in zahl¬
reichen Fällen theils zur Erläuterung theils als Beweismaterial citirt wer¬
den; oft können sie geradezu als authentisches Beweismaterial gelten. In
allen den Fällen nämlich, in welchen die verschiedenen Factoren der Gesetz¬
gebung d. h. die Regierung und die Majoritäten der Häuser in ihren Moti-
virungen eines Verfassungsparagraphcn übereinstimmen, enthalten diese Moti-
virungen urkundlich die Intentionen des Gesetzgebers; was auch da anzunehmen
ist, wo der bestimmt hervorgehobenen Motivirung von der einen Seite ein
Widerspruch von der andern Seite nicht entgegengesetzt ist. Hierin gerade
scheint uns auch die Bedeutung der schon oben berührten Verfassungsrevision
zu liegen, indem dieselbe es ermöglicht hat, einen klaren Blick in die Inten¬
tionen des Gesetzgebers zu thun. Allerdings würden schon die Umstände, unter
denen die Verfassungsurkunde erlassen ist, jeden unbefangenen Beurtheiler zu
der Ansicht veranlassen, daß die Bestimmungen derselben nicht im reactionären,
sondern im liberalen Sinne zu deuten sind: schon die Bedenken des Königs
Friedrich Wilhelms des Vierten, die Verfassung vor ihrer Revision feierlich zu
bekräftigen, sprechen dafür, daß der Gesetzgeber an nichts weniger als an eine
engherzige Interpretation gedacht hat.


fassung in Widerspruch stehen würde, da es alle übrigen Rechte des Hauses
nichtig und wirkungslos machen würde, liegt auf der Hand.

Gesetzt also, daß, was übrigens durchaus nicht der Fall ist, der Wortlaut
des Artikels 99. eine den Ansichten des Grafen Arnim günstige Auslegung
zuließe, so würde doch eine derartige Interpretation sich aus dem Zusammen¬
hange der Verfassung heraus als irrthümlich erweisen lassen. Natürlich w>rd
die Argumentationsweise, die auf Vergleichung eines einzelnen Falles mit einer
unzweideutigen Grundbestimmung der Verfassung basirt ist, mit der äußersten
Vorsicht und nur da, wo ihre Bündigkeit ganz außer Zweifel steht, angewendet
werden dürfen. Ein besonderer Grund zum maßvollen Gebrauch dieser Jnter-
pretationswcise liegt ferner noch darin, daß sie überaus leicht zu einer sophi¬
stischen und tendenziösen Behandlung des Verfassungsrechtes überhaupt führt,
indem sie unter Umständen ebensowohl zum Angriffe aus die Verfassung als
zur Vertheidigung derselben gebraucht werden kann.

Eine viel überzeugendere Kraft hat aber, und viel weniger bedenklich in
ihren Folgen ist die Argumentation aus der Geschichte der Verfassung, d. b.
aus den Umständen, unter denen eine Bestimmung zum Gesetze erhoben worden
ist, und aus den Verhandlungen, die zur Annahme desselben geführt haben.
Denn in diesen Verhandlungen offenbaren sich die Intentionen des Gesetzgebers,
auf die man vor Allem zurückzugehen hat, wo das Gesetz selbst in seiner Fas¬
sung eine verschiedene Auffassung zuläßt.

Somit bildet eine der allerwichtigsten Quellen der Auslegung die steno¬
graphischen Landtagsverhandiungen, die daher von dem Verfasser auch in zahl¬
reichen Fällen theils zur Erläuterung theils als Beweismaterial citirt wer¬
den; oft können sie geradezu als authentisches Beweismaterial gelten. In
allen den Fällen nämlich, in welchen die verschiedenen Factoren der Gesetz¬
gebung d. h. die Regierung und die Majoritäten der Häuser in ihren Moti-
virungen eines Verfassungsparagraphcn übereinstimmen, enthalten diese Moti-
virungen urkundlich die Intentionen des Gesetzgebers; was auch da anzunehmen
ist, wo der bestimmt hervorgehobenen Motivirung von der einen Seite ein
Widerspruch von der andern Seite nicht entgegengesetzt ist. Hierin gerade
scheint uns auch die Bedeutung der schon oben berührten Verfassungsrevision
zu liegen, indem dieselbe es ermöglicht hat, einen klaren Blick in die Inten¬
tionen des Gesetzgebers zu thun. Allerdings würden schon die Umstände, unter
denen die Verfassungsurkunde erlassen ist, jeden unbefangenen Beurtheiler zu
der Ansicht veranlassen, daß die Bestimmungen derselben nicht im reactionären,
sondern im liberalen Sinne zu deuten sind: schon die Bedenken des Königs
Friedrich Wilhelms des Vierten, die Verfassung vor ihrer Revision feierlich zu
bekräftigen, sprechen dafür, daß der Gesetzgeber an nichts weniger als an eine
engherzige Interpretation gedacht hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/89>, abgerufen am 01.10.2024.