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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Messiasidee entfernt. Im Augenblick des Todes legte Jesus seinen irdischen
Leid, alles Natürliche und damit auch seine nationale Bestimmtheit ad; von
diesem Moment an war er der geistige Christus, gehörte er der ganzen Mensch¬
heit an; durch seinen Tod war er in eine rein geistige universale Bedeutung
hinausgerückt. Mit diesem Gedanken, der den Zusammenhang Jesu mit der
nationalen Messiasidee mit einem Mal durchschnitt, war nun das Christenthum
als etwas durchaus Neues, als eine neue Schöpfung begriffen, zu der sich das
Judenthum verhielt wie das Schattenbild zur Sache selbst oder höchstens wie
eine Vorstufe, wie der Gehorsam des Knaben zur Freiheit des Mannes. Das
Christenthum war aus seine eigenen Füße gestellt und daraus folgten unmittel¬
bar die beiden praktischen Grundgedanken der apostolischen Wirksamkeit des Pau¬
lus: die Abschaffung des mosaischen Gesetzes und die Universalität des messiani-
schen Heils, jenes die Consequenz des Princips in Bezug auf die Juden, die¬
ses seine Consequenz in Bezug aus die Heiden. Aber auch ein völlig neuer
Inhalt für das christliche Bewußtsein selbst war damit gegeben. Die ersten
Christen hatten sich an das Gesetz und außerdem an das Vorbild und die Lehre
Jesu gehalten. Paulus erklärte nicht blos das Gesetz für abgeschafft, sondern
stellte auch Lehre und Vorbild Jesu zurück gegen die völlige Erneuerung des
Sinns, die Wiedergeburt, die Aneignung des durch den Tod vermittelten Heils,
die mystische Einigung mit dem Herrn. Und nun knüpfen sich an jenes erste
Paradoxon vom Tode des Herrn, welcher das Leben ist, eine Reihe weiterer
Paradoxen, in welchen allen sich die idealistische Denkart, die mit dem Christen¬
thum zu einer weltgeschichtlichen Macht wurde, in schärfster Weise ausspricht.
"Sterben mit Christus", "Gott ist stark in den Schwachen", "wenn ich schwach
bin, bin ich start", "nichts habend und doch alles besitzend" u. s. w. -- lauter
Ausdrücke, die das Uebergewicht des Geistes über den Körper, des Gedankens
über den Stoff, des unendlichen Gehalts über das äußere Gefäß bezeichnen.
Auch darin sprach sich etwas aus, was bereits in den Seligprcisungen der
Bergrcde angeklungen hatte, aber Paulus sprach es aus mit dem klaren Be¬
wußtsein eines neuen Princips. Das Leibliche ist nichts, das Geistige ist alles
-- dieser spiritualistische Gedanke kam zum ersten Mal am Kreuze Jesu zum
Bewußtsein. Paulus, der dem Kreuze diesen Gedanken entnahm, stellte mit
seiner Person gleichsam den ersten Typus dieser neuen Weltanschauung dar, er,
der den köstlichen Schatz in einem gebrechlichen Leibe trug und sich seiner kör¬
perlichen Schwachheit rühmte, weil das Göttliche, die Gewalt des Geistes nur
um so herrlicher sich zeige je nichtiger das Werkzeug, dessen er sich bediene
er, der, wie er ein andres Mal sagt, als Trauernder doch immer froh war
und als Bettler doch Viele bereicherte.

Hierin lag der entschiedenste Bruch mit dem Geist des Hellenenthums, aber
auch über die engen Schranken des Judenchristenthums strebte der neue Geist


Messiasidee entfernt. Im Augenblick des Todes legte Jesus seinen irdischen
Leid, alles Natürliche und damit auch seine nationale Bestimmtheit ad; von
diesem Moment an war er der geistige Christus, gehörte er der ganzen Mensch¬
heit an; durch seinen Tod war er in eine rein geistige universale Bedeutung
hinausgerückt. Mit diesem Gedanken, der den Zusammenhang Jesu mit der
nationalen Messiasidee mit einem Mal durchschnitt, war nun das Christenthum
als etwas durchaus Neues, als eine neue Schöpfung begriffen, zu der sich das
Judenthum verhielt wie das Schattenbild zur Sache selbst oder höchstens wie
eine Vorstufe, wie der Gehorsam des Knaben zur Freiheit des Mannes. Das
Christenthum war aus seine eigenen Füße gestellt und daraus folgten unmittel¬
bar die beiden praktischen Grundgedanken der apostolischen Wirksamkeit des Pau¬
lus: die Abschaffung des mosaischen Gesetzes und die Universalität des messiani-
schen Heils, jenes die Consequenz des Princips in Bezug auf die Juden, die¬
ses seine Consequenz in Bezug aus die Heiden. Aber auch ein völlig neuer
Inhalt für das christliche Bewußtsein selbst war damit gegeben. Die ersten
Christen hatten sich an das Gesetz und außerdem an das Vorbild und die Lehre
Jesu gehalten. Paulus erklärte nicht blos das Gesetz für abgeschafft, sondern
stellte auch Lehre und Vorbild Jesu zurück gegen die völlige Erneuerung des
Sinns, die Wiedergeburt, die Aneignung des durch den Tod vermittelten Heils,
die mystische Einigung mit dem Herrn. Und nun knüpfen sich an jenes erste
Paradoxon vom Tode des Herrn, welcher das Leben ist, eine Reihe weiterer
Paradoxen, in welchen allen sich die idealistische Denkart, die mit dem Christen¬
thum zu einer weltgeschichtlichen Macht wurde, in schärfster Weise ausspricht.
„Sterben mit Christus", „Gott ist stark in den Schwachen", „wenn ich schwach
bin, bin ich start", „nichts habend und doch alles besitzend" u. s. w. — lauter
Ausdrücke, die das Uebergewicht des Geistes über den Körper, des Gedankens
über den Stoff, des unendlichen Gehalts über das äußere Gefäß bezeichnen.
Auch darin sprach sich etwas aus, was bereits in den Seligprcisungen der
Bergrcde angeklungen hatte, aber Paulus sprach es aus mit dem klaren Be¬
wußtsein eines neuen Princips. Das Leibliche ist nichts, das Geistige ist alles
— dieser spiritualistische Gedanke kam zum ersten Mal am Kreuze Jesu zum
Bewußtsein. Paulus, der dem Kreuze diesen Gedanken entnahm, stellte mit
seiner Person gleichsam den ersten Typus dieser neuen Weltanschauung dar, er,
der den köstlichen Schatz in einem gebrechlichen Leibe trug und sich seiner kör¬
perlichen Schwachheit rühmte, weil das Göttliche, die Gewalt des Geistes nur
um so herrlicher sich zeige je nichtiger das Werkzeug, dessen er sich bediene
er, der, wie er ein andres Mal sagt, als Trauernder doch immer froh war
und als Bettler doch Viele bereicherte.

Hierin lag der entschiedenste Bruch mit dem Geist des Hellenenthums, aber
auch über die engen Schranken des Judenchristenthums strebte der neue Geist


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[0075] Messiasidee entfernt. Im Augenblick des Todes legte Jesus seinen irdischen Leid, alles Natürliche und damit auch seine nationale Bestimmtheit ad; von diesem Moment an war er der geistige Christus, gehörte er der ganzen Mensch¬ heit an; durch seinen Tod war er in eine rein geistige universale Bedeutung hinausgerückt. Mit diesem Gedanken, der den Zusammenhang Jesu mit der nationalen Messiasidee mit einem Mal durchschnitt, war nun das Christenthum als etwas durchaus Neues, als eine neue Schöpfung begriffen, zu der sich das Judenthum verhielt wie das Schattenbild zur Sache selbst oder höchstens wie eine Vorstufe, wie der Gehorsam des Knaben zur Freiheit des Mannes. Das Christenthum war aus seine eigenen Füße gestellt und daraus folgten unmittel¬ bar die beiden praktischen Grundgedanken der apostolischen Wirksamkeit des Pau¬ lus: die Abschaffung des mosaischen Gesetzes und die Universalität des messiani- schen Heils, jenes die Consequenz des Princips in Bezug auf die Juden, die¬ ses seine Consequenz in Bezug aus die Heiden. Aber auch ein völlig neuer Inhalt für das christliche Bewußtsein selbst war damit gegeben. Die ersten Christen hatten sich an das Gesetz und außerdem an das Vorbild und die Lehre Jesu gehalten. Paulus erklärte nicht blos das Gesetz für abgeschafft, sondern stellte auch Lehre und Vorbild Jesu zurück gegen die völlige Erneuerung des Sinns, die Wiedergeburt, die Aneignung des durch den Tod vermittelten Heils, die mystische Einigung mit dem Herrn. Und nun knüpfen sich an jenes erste Paradoxon vom Tode des Herrn, welcher das Leben ist, eine Reihe weiterer Paradoxen, in welchen allen sich die idealistische Denkart, die mit dem Christen¬ thum zu einer weltgeschichtlichen Macht wurde, in schärfster Weise ausspricht. „Sterben mit Christus", „Gott ist stark in den Schwachen", „wenn ich schwach bin, bin ich start", „nichts habend und doch alles besitzend" u. s. w. — lauter Ausdrücke, die das Uebergewicht des Geistes über den Körper, des Gedankens über den Stoff, des unendlichen Gehalts über das äußere Gefäß bezeichnen. Auch darin sprach sich etwas aus, was bereits in den Seligprcisungen der Bergrcde angeklungen hatte, aber Paulus sprach es aus mit dem klaren Be¬ wußtsein eines neuen Princips. Das Leibliche ist nichts, das Geistige ist alles — dieser spiritualistische Gedanke kam zum ersten Mal am Kreuze Jesu zum Bewußtsein. Paulus, der dem Kreuze diesen Gedanken entnahm, stellte mit seiner Person gleichsam den ersten Typus dieser neuen Weltanschauung dar, er, der den köstlichen Schatz in einem gebrechlichen Leibe trug und sich seiner kör¬ perlichen Schwachheit rühmte, weil das Göttliche, die Gewalt des Geistes nur um so herrlicher sich zeige je nichtiger das Werkzeug, dessen er sich bediene er, der, wie er ein andres Mal sagt, als Trauernder doch immer froh war und als Bettler doch Viele bereicherte. Hierin lag der entschiedenste Bruch mit dem Geist des Hellenenthums, aber auch über die engen Schranken des Judenchristenthums strebte der neue Geist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/75>, abgerufen am 03.07.2024.