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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Nichts bezeichnet die Geistesart des Apostels sprechender als der Umstand,
daß er nach seiner Bekehrung nicht nach Jerusalem ging, um die älteren Apostel,
die Zeugen des Lebens Jesu zu hören, sondern nach Arabien, um sich den
neuen Inhalt seines Bewußtseins auseinanderzusetzen. Von dem Augenblick der
Berufung stand ihm auch dies fest, daß sein Apvstolat ebenbürtig sei mit dem
der Urapostel. Jesus selbst hatte ihn berufen, so gut wie sie; der Auferstandene
war ihm erschienen, so gut wie ihnen. Was Kälte er von ihnen lernen sollen?
Wenn sie Jesus den Lebenden gekannt hatten, so war dies ja nur der irdische
fleischliche Jesus gewesen; der aber war am Kreuze abgethan, erdrückt von der
Sünden Last, die auf ihn gelegt war. Ihn hatte der geistige Christus, der
Auferstandene berufen, ihm allein war er Rechenschaft schuldig, von ihm allein
nahm er Belehrung an.

Man sieht, auf welcher subjectiven Spitze der christliche Glaube des
Apostels ruhte, man ahnt, wie er mit der Autorität der Urapostel, mit der
Tradition der ersten Gemeinde in Conflict kommen wird. Für ihn gibt es
keine Autorität, als die innere Stimme, die ihn berufen, als den Geist
Gottes, der auch die Tiefen der Gottheit ausschließt. Er braucht keine äußere
Geschichte Jesu, keine Fabeln und Legenden, keine Lehraufträge. Er-braucht
nichts als die einzige Thatsache des Kreuzestodes; an sie knüpft sich alles Weitere.
Sie nimmt er mit nach Arabien und spinnt nun aus ihr jenes geistvolle, zu¬
weilen spitzfindige und doch aus ächter speculativer Tiefe geborene System
heraus, in welchem er die Trümmer seiner rabbinischen und alexandrinischen
Theologie unterbringt und sie im Lichte der neuen Wahrheit, die ihm auf¬
gegangen ist, zu einer neuen geistigen Einheit zusammenschließt. Es kann hier
nicht die Absicht sein, dieses theologische System des Apostels Paulus zu ent¬
wickeln. Man weiß, daß die ursprüngliche Verderbtheit der menschlichen Natur,
der stellvertretende Opfertod Christi, die Auferstehung als Symbol der geistigen
Wiedergeburt, die Rechtfertigung durch den Glauben, der Fluch und die Nich¬
tigkeit des Gesetzes, das Christenthum als die Religion des Geistes und der
Freiheit, als das Centrum der Weltgeschichte, auf das alles Vergangene hin¬
drängt wie alles Künftige von ihm ausgeht, daß dies alles nur die Spitzen
einer zusammenhängenden originellen Weltanschauung sind, die ihren Mittel¬
punkt am Kreuze Jesu hat. Wir beschränken uns darauf, einige Punkte her¬
vorzuheben, die für den Umschwung, den das christliche Bewußtsein mit Pau¬
lus erfuhr, besonders charakteristisch sind.

Es war ein namhafter Schritt, als die älteren Apostel die Ueberzeugung
aussprachen: Jesus ist trotz des Todes der Messias. Aber es war ein ungleich
größerer Schritt, als der Apostel Paulus den Gedanken faßte: gerade wegen
seines Kreuzestodes ist Jesus der Messias. Mit diesem schneidenden Paradoxon
war erst das Judenthum an der Wurzel gefaßt und alles Nationale aus der


Nichts bezeichnet die Geistesart des Apostels sprechender als der Umstand,
daß er nach seiner Bekehrung nicht nach Jerusalem ging, um die älteren Apostel,
die Zeugen des Lebens Jesu zu hören, sondern nach Arabien, um sich den
neuen Inhalt seines Bewußtseins auseinanderzusetzen. Von dem Augenblick der
Berufung stand ihm auch dies fest, daß sein Apvstolat ebenbürtig sei mit dem
der Urapostel. Jesus selbst hatte ihn berufen, so gut wie sie; der Auferstandene
war ihm erschienen, so gut wie ihnen. Was Kälte er von ihnen lernen sollen?
Wenn sie Jesus den Lebenden gekannt hatten, so war dies ja nur der irdische
fleischliche Jesus gewesen; der aber war am Kreuze abgethan, erdrückt von der
Sünden Last, die auf ihn gelegt war. Ihn hatte der geistige Christus, der
Auferstandene berufen, ihm allein war er Rechenschaft schuldig, von ihm allein
nahm er Belehrung an.

Man sieht, auf welcher subjectiven Spitze der christliche Glaube des
Apostels ruhte, man ahnt, wie er mit der Autorität der Urapostel, mit der
Tradition der ersten Gemeinde in Conflict kommen wird. Für ihn gibt es
keine Autorität, als die innere Stimme, die ihn berufen, als den Geist
Gottes, der auch die Tiefen der Gottheit ausschließt. Er braucht keine äußere
Geschichte Jesu, keine Fabeln und Legenden, keine Lehraufträge. Er-braucht
nichts als die einzige Thatsache des Kreuzestodes; an sie knüpft sich alles Weitere.
Sie nimmt er mit nach Arabien und spinnt nun aus ihr jenes geistvolle, zu¬
weilen spitzfindige und doch aus ächter speculativer Tiefe geborene System
heraus, in welchem er die Trümmer seiner rabbinischen und alexandrinischen
Theologie unterbringt und sie im Lichte der neuen Wahrheit, die ihm auf¬
gegangen ist, zu einer neuen geistigen Einheit zusammenschließt. Es kann hier
nicht die Absicht sein, dieses theologische System des Apostels Paulus zu ent¬
wickeln. Man weiß, daß die ursprüngliche Verderbtheit der menschlichen Natur,
der stellvertretende Opfertod Christi, die Auferstehung als Symbol der geistigen
Wiedergeburt, die Rechtfertigung durch den Glauben, der Fluch und die Nich¬
tigkeit des Gesetzes, das Christenthum als die Religion des Geistes und der
Freiheit, als das Centrum der Weltgeschichte, auf das alles Vergangene hin¬
drängt wie alles Künftige von ihm ausgeht, daß dies alles nur die Spitzen
einer zusammenhängenden originellen Weltanschauung sind, die ihren Mittel¬
punkt am Kreuze Jesu hat. Wir beschränken uns darauf, einige Punkte her¬
vorzuheben, die für den Umschwung, den das christliche Bewußtsein mit Pau¬
lus erfuhr, besonders charakteristisch sind.

Es war ein namhafter Schritt, als die älteren Apostel die Ueberzeugung
aussprachen: Jesus ist trotz des Todes der Messias. Aber es war ein ungleich
größerer Schritt, als der Apostel Paulus den Gedanken faßte: gerade wegen
seines Kreuzestodes ist Jesus der Messias. Mit diesem schneidenden Paradoxon
war erst das Judenthum an der Wurzel gefaßt und alles Nationale aus der


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[0074] Nichts bezeichnet die Geistesart des Apostels sprechender als der Umstand, daß er nach seiner Bekehrung nicht nach Jerusalem ging, um die älteren Apostel, die Zeugen des Lebens Jesu zu hören, sondern nach Arabien, um sich den neuen Inhalt seines Bewußtseins auseinanderzusetzen. Von dem Augenblick der Berufung stand ihm auch dies fest, daß sein Apvstolat ebenbürtig sei mit dem der Urapostel. Jesus selbst hatte ihn berufen, so gut wie sie; der Auferstandene war ihm erschienen, so gut wie ihnen. Was Kälte er von ihnen lernen sollen? Wenn sie Jesus den Lebenden gekannt hatten, so war dies ja nur der irdische fleischliche Jesus gewesen; der aber war am Kreuze abgethan, erdrückt von der Sünden Last, die auf ihn gelegt war. Ihn hatte der geistige Christus, der Auferstandene berufen, ihm allein war er Rechenschaft schuldig, von ihm allein nahm er Belehrung an. Man sieht, auf welcher subjectiven Spitze der christliche Glaube des Apostels ruhte, man ahnt, wie er mit der Autorität der Urapostel, mit der Tradition der ersten Gemeinde in Conflict kommen wird. Für ihn gibt es keine Autorität, als die innere Stimme, die ihn berufen, als den Geist Gottes, der auch die Tiefen der Gottheit ausschließt. Er braucht keine äußere Geschichte Jesu, keine Fabeln und Legenden, keine Lehraufträge. Er-braucht nichts als die einzige Thatsache des Kreuzestodes; an sie knüpft sich alles Weitere. Sie nimmt er mit nach Arabien und spinnt nun aus ihr jenes geistvolle, zu¬ weilen spitzfindige und doch aus ächter speculativer Tiefe geborene System heraus, in welchem er die Trümmer seiner rabbinischen und alexandrinischen Theologie unterbringt und sie im Lichte der neuen Wahrheit, die ihm auf¬ gegangen ist, zu einer neuen geistigen Einheit zusammenschließt. Es kann hier nicht die Absicht sein, dieses theologische System des Apostels Paulus zu ent¬ wickeln. Man weiß, daß die ursprüngliche Verderbtheit der menschlichen Natur, der stellvertretende Opfertod Christi, die Auferstehung als Symbol der geistigen Wiedergeburt, die Rechtfertigung durch den Glauben, der Fluch und die Nich¬ tigkeit des Gesetzes, das Christenthum als die Religion des Geistes und der Freiheit, als das Centrum der Weltgeschichte, auf das alles Vergangene hin¬ drängt wie alles Künftige von ihm ausgeht, daß dies alles nur die Spitzen einer zusammenhängenden originellen Weltanschauung sind, die ihren Mittel¬ punkt am Kreuze Jesu hat. Wir beschränken uns darauf, einige Punkte her¬ vorzuheben, die für den Umschwung, den das christliche Bewußtsein mit Pau¬ lus erfuhr, besonders charakteristisch sind. Es war ein namhafter Schritt, als die älteren Apostel die Ueberzeugung aussprachen: Jesus ist trotz des Todes der Messias. Aber es war ein ungleich größerer Schritt, als der Apostel Paulus den Gedanken faßte: gerade wegen seines Kreuzestodes ist Jesus der Messias. Mit diesem schneidenden Paradoxon war erst das Judenthum an der Wurzel gefaßt und alles Nationale aus der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/74>, abgerufen am 03.07.2024.