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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Auch dieser Uebertritt mochte seine inneren, ihm selbst vielleicht unbewu߬
ten Vorbereitungen haben. In der Christensekte, die er austilgen wollte, be¬
gegnete ihm eine lebendige Macht, die der Verfolgungen und des Märtyrertods
spottete. Was war denn diese neue Macht, welche solche Todesfreudigkeit weckte?
Und wenn ihn die Christen vielleicht-aus der Schrift belehren wollten; wenn
sie sich auf jene Stellen beriefen, worin sie Voraussagungen auf das Leiden,
Sterben und Auferstehen des,Messias erblickten, war nicht Paulus selbst einer
solchen allegorischen Deutung der Schrift zugänglich, mochte er nicht selbst da¬
durch veranlaßt werden, in der Schrift zu forschen und selbst die Züge des neuen
Messiasbildcs aus dem alten Bund herauszulesen? Wenn ferner die Anhänger der
junge" Sekte, um den Widerspruch der geschichtlichen Erscheinung Jesu mit dem
jüdischen Messiasglauben vollends zu beseitigen, den Glauben an sein künftiges
Wiederkommen festhielten; wenn sie sich als Bürgschaft dafür auf die Erschei¬
nungen beriefen, die ihnen selbst von dem verklärten Jesus zu Theil geworden
waren; wenn sie den Umschwung ihres Bewußtseins von diesen Offenbarungen
des Gekreuzigten datirten, lag ihm da der Gedanke so ferne: wie, wenn mir
auch dieser erhöhte Christus erschiene, wenn die Christen doch Recht hätten, wenn
er doch der von den alten Propheten Verkündigte wäre! Mußte nicht eine stür¬
mische Gährung in seinem Innern die Folge sein, und wenn diese, mit Ge¬
walt niedergehalten und lange übertäubt, endlich zu einer Vision durchbrach,
die strafend an das Gewissen des Verfolgers rührte, aber zugleich alle Zwei¬
fel in beseligendes Entzücken schmolz. welche dein seiner Sinne nicht Mächtigen
doch zugleich in voller Klarheit seinen Beruf entgegenhielt; kann dies bei der
ganzen Geistesart des Apostels noch etwas Wunderbares haben?

Solche und ähnliche Gedankenreihen stehen uns noch zu Gebot, um den
geheimnißvollen psychologischen Vorgang uns begreiflich zu machen. Aber wie
es sich auch damit verhalten mag, Thatsache ist, daß Paulus einer solchen
Vision seine Umwandlung verdankte. Von diesem Augenblick stand ihm fest,
daß Jesus der Messias war, und daß er selbst den Beruf habe, diesen Messias
den Völkern zu verkündigen; in dieser Erscheinung hatte Jesus ihn selbst gerufen.
Aber daran schloß sich sofort eine überwältigende Fluth von Gedanken an.
Die neue Wahrheit war dem gläubigen Pharisäer mitten durchs Herz gegangen,
sie hatte sein ganzes System auf den Kopf gestellt. Eine neue Weltanschauung
that sich vor ihm auf, aber es brauchte Zeit, diese in sich zu verarbeiten.
Von der Thatsache des Kreuzes eröffneten sich ihm unentdeckte Perspectiven in
das Innere der Menschennatur wie in die gesammte Entwickelung der Völker,
das mußte alles mit seiner bisherigen Denkweise auseinandergesetzt, in die ge¬
wohnten Denkformen der neue Inhalt hineingegossen werden. Er mußte eine
Revision seines theologischen Systems vom Mittelpunkt der Kreuzcsthatsache
aus vornehmen, und er suchte die Einsamkeit.


Auch dieser Uebertritt mochte seine inneren, ihm selbst vielleicht unbewu߬
ten Vorbereitungen haben. In der Christensekte, die er austilgen wollte, be¬
gegnete ihm eine lebendige Macht, die der Verfolgungen und des Märtyrertods
spottete. Was war denn diese neue Macht, welche solche Todesfreudigkeit weckte?
Und wenn ihn die Christen vielleicht-aus der Schrift belehren wollten; wenn
sie sich auf jene Stellen beriefen, worin sie Voraussagungen auf das Leiden,
Sterben und Auferstehen des,Messias erblickten, war nicht Paulus selbst einer
solchen allegorischen Deutung der Schrift zugänglich, mochte er nicht selbst da¬
durch veranlaßt werden, in der Schrift zu forschen und selbst die Züge des neuen
Messiasbildcs aus dem alten Bund herauszulesen? Wenn ferner die Anhänger der
junge» Sekte, um den Widerspruch der geschichtlichen Erscheinung Jesu mit dem
jüdischen Messiasglauben vollends zu beseitigen, den Glauben an sein künftiges
Wiederkommen festhielten; wenn sie sich als Bürgschaft dafür auf die Erschei¬
nungen beriefen, die ihnen selbst von dem verklärten Jesus zu Theil geworden
waren; wenn sie den Umschwung ihres Bewußtseins von diesen Offenbarungen
des Gekreuzigten datirten, lag ihm da der Gedanke so ferne: wie, wenn mir
auch dieser erhöhte Christus erschiene, wenn die Christen doch Recht hätten, wenn
er doch der von den alten Propheten Verkündigte wäre! Mußte nicht eine stür¬
mische Gährung in seinem Innern die Folge sein, und wenn diese, mit Ge¬
walt niedergehalten und lange übertäubt, endlich zu einer Vision durchbrach,
die strafend an das Gewissen des Verfolgers rührte, aber zugleich alle Zwei¬
fel in beseligendes Entzücken schmolz. welche dein seiner Sinne nicht Mächtigen
doch zugleich in voller Klarheit seinen Beruf entgegenhielt; kann dies bei der
ganzen Geistesart des Apostels noch etwas Wunderbares haben?

Solche und ähnliche Gedankenreihen stehen uns noch zu Gebot, um den
geheimnißvollen psychologischen Vorgang uns begreiflich zu machen. Aber wie
es sich auch damit verhalten mag, Thatsache ist, daß Paulus einer solchen
Vision seine Umwandlung verdankte. Von diesem Augenblick stand ihm fest,
daß Jesus der Messias war, und daß er selbst den Beruf habe, diesen Messias
den Völkern zu verkündigen; in dieser Erscheinung hatte Jesus ihn selbst gerufen.
Aber daran schloß sich sofort eine überwältigende Fluth von Gedanken an.
Die neue Wahrheit war dem gläubigen Pharisäer mitten durchs Herz gegangen,
sie hatte sein ganzes System auf den Kopf gestellt. Eine neue Weltanschauung
that sich vor ihm auf, aber es brauchte Zeit, diese in sich zu verarbeiten.
Von der Thatsache des Kreuzes eröffneten sich ihm unentdeckte Perspectiven in
das Innere der Menschennatur wie in die gesammte Entwickelung der Völker,
das mußte alles mit seiner bisherigen Denkweise auseinandergesetzt, in die ge¬
wohnten Denkformen der neue Inhalt hineingegossen werden. Er mußte eine
Revision seines theologischen Systems vom Mittelpunkt der Kreuzcsthatsache
aus vornehmen, und er suchte die Einsamkeit.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/73>, abgerufen am 01.10.2024.