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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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dann war vielmehr in den deutschen Schweizerkantonen von jeher und ohne
Einfluß des religiösen Bekenntnisses so ganz in Uebung gewesen, daß alte Sta-
tutarrechte und Dvrfschaftsbriefe seiner als einer Servitut gedenken, deren Lei¬
stung oder Nutzung verschiedentlich bald dem Dorfweivel zufiel, bald dem Orts¬
pfarrer und Sigrist, bald sogar sämmtlichen Weibern der Gemeinde. Einen
Nachklang dieser alte" Satzungen haben wir noch in dem aargauer Dorfe Mühen.
Hier muß der Bannwart jährlich einen großen Tannenbaum im Forste hauen
und ihn unbeschädigt im Tanzsaal des Wirthshauses zum Bären aufrichten.
Am Christabend nimmt der Schullehrer sammt der Kinderschaar unter dem
Baume Phitz und spielt die Rolle der "G'vättcrligotte"; er muß nämlich mit
den Kindern kindisch thun, gevätterlen gleich der Kinderpathin oder Gotte.
Darauf erscheint der Pfarrer, singt mit ihnen einen Psalm und vertheilt einem
jeden den voraus bestimmten Kram. Damit man den Lebkuchen oder das Eier-
zöpflcin glatt hinunterbringt, giebt der Lehrer jedem einen. Schluck aus der
Weinlaune. Sind alsdann alle beschenkt, heimgeschickt und zu Bette gebracht,
so eröffnen die Eltern auf dem gleichen Platze den Tanz um den Tannenbaum.
Auch ist es Brauch, daß in der obersten Mädchenschule armen.Kindern bescheert
wird, was an Handarbeit aufgesammelt worden ist.

In etlichen Landschaften der deutschen und romanischen Schweiz ist es dem
Klerus gelungen, statt des heidnischen Weihnachtsbaumes die "Rose von Jericho"
in Geltung zu bringen, noch nicht seit langem, da dieser Ersatzpflanze erst 1560
durch Caspar Baudin ihr Name gegeben worden ist. Es ist dies die anastg.-
lieg, tukroeuntjeu,, sonst auch Llurt Nirrüim, Marienhand genannt, die ehedem
getrocknet mit Stengel und Schote in den Handel kam. Befeuchtet oder ins
Wasser gestellt, dehnt sie den Knäuel ihrer verworrenen Zweiglein eine Weile
aus und schrumpft trocknend wieder zusammen, dann sagt man, die Blume
blühe und schließe sich wieder. Im bündnerischen Puschlav ist es Brauch,
psalmensingend die Wache bei der Weihnachlsrose zu halten: v<zgljg.r>z u>I1a rosa,
act Sö-uto Und.g,1e; rings um den Tisch sitzt die wartende Familie und der¬
jenige gilt für den Glücklichsten im neuen Jahre, nach dessen Seite hin sich
die Rose am meisten entfaltet. In unserm Freienamte wird nach dem Abend¬
essen der Tisch frisch gedeckt und die Rose in eine Schüssel voll Weihwasser ge¬
stellt. Man verfügt sich dann in die mitternächtige Christmette und hofft bei
der Rückkehr die Pflanze mit völlig ausgebreiteten Zweigen vorzufinden, dann
hält man sie vors Licht und bestaunt ihren röthlichen Schimmer. Bleiben ihre
drei Mittclästchen ungeöffnet, so deutet dies auf einen Trauerfall, der die
Familie mit nächstem Jahre betreffen wird. Einige sagen, die Pflanze sei zu
Bethlehem in der Geburtsstunde Christi gewachsen. Andere auch, sie sei unter
Marias Fuß aufgesproßt, gleich dem oxprixoäium oder Frauenschühlein, da
des Herrn Mutter auf Besuch zu Elisabeth über das Gebirge ging. Man ve-


dann war vielmehr in den deutschen Schweizerkantonen von jeher und ohne
Einfluß des religiösen Bekenntnisses so ganz in Uebung gewesen, daß alte Sta-
tutarrechte und Dvrfschaftsbriefe seiner als einer Servitut gedenken, deren Lei¬
stung oder Nutzung verschiedentlich bald dem Dorfweivel zufiel, bald dem Orts¬
pfarrer und Sigrist, bald sogar sämmtlichen Weibern der Gemeinde. Einen
Nachklang dieser alte» Satzungen haben wir noch in dem aargauer Dorfe Mühen.
Hier muß der Bannwart jährlich einen großen Tannenbaum im Forste hauen
und ihn unbeschädigt im Tanzsaal des Wirthshauses zum Bären aufrichten.
Am Christabend nimmt der Schullehrer sammt der Kinderschaar unter dem
Baume Phitz und spielt die Rolle der „G'vättcrligotte"; er muß nämlich mit
den Kindern kindisch thun, gevätterlen gleich der Kinderpathin oder Gotte.
Darauf erscheint der Pfarrer, singt mit ihnen einen Psalm und vertheilt einem
jeden den voraus bestimmten Kram. Damit man den Lebkuchen oder das Eier-
zöpflcin glatt hinunterbringt, giebt der Lehrer jedem einen. Schluck aus der
Weinlaune. Sind alsdann alle beschenkt, heimgeschickt und zu Bette gebracht,
so eröffnen die Eltern auf dem gleichen Platze den Tanz um den Tannenbaum.
Auch ist es Brauch, daß in der obersten Mädchenschule armen.Kindern bescheert
wird, was an Handarbeit aufgesammelt worden ist.

In etlichen Landschaften der deutschen und romanischen Schweiz ist es dem
Klerus gelungen, statt des heidnischen Weihnachtsbaumes die „Rose von Jericho"
in Geltung zu bringen, noch nicht seit langem, da dieser Ersatzpflanze erst 1560
durch Caspar Baudin ihr Name gegeben worden ist. Es ist dies die anastg.-
lieg, tukroeuntjeu,, sonst auch Llurt Nirrüim, Marienhand genannt, die ehedem
getrocknet mit Stengel und Schote in den Handel kam. Befeuchtet oder ins
Wasser gestellt, dehnt sie den Knäuel ihrer verworrenen Zweiglein eine Weile
aus und schrumpft trocknend wieder zusammen, dann sagt man, die Blume
blühe und schließe sich wieder. Im bündnerischen Puschlav ist es Brauch,
psalmensingend die Wache bei der Weihnachlsrose zu halten: v<zgljg.r>z u>I1a rosa,
act Sö-uto Und.g,1e; rings um den Tisch sitzt die wartende Familie und der¬
jenige gilt für den Glücklichsten im neuen Jahre, nach dessen Seite hin sich
die Rose am meisten entfaltet. In unserm Freienamte wird nach dem Abend¬
essen der Tisch frisch gedeckt und die Rose in eine Schüssel voll Weihwasser ge¬
stellt. Man verfügt sich dann in die mitternächtige Christmette und hofft bei
der Rückkehr die Pflanze mit völlig ausgebreiteten Zweigen vorzufinden, dann
hält man sie vors Licht und bestaunt ihren röthlichen Schimmer. Bleiben ihre
drei Mittclästchen ungeöffnet, so deutet dies auf einen Trauerfall, der die
Familie mit nächstem Jahre betreffen wird. Einige sagen, die Pflanze sei zu
Bethlehem in der Geburtsstunde Christi gewachsen. Andere auch, sie sei unter
Marias Fuß aufgesproßt, gleich dem oxprixoäium oder Frauenschühlein, da
des Herrn Mutter auf Besuch zu Elisabeth über das Gebirge ging. Man ve-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/512>, abgerufen am 03.07.2024.