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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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hervor. Weihnachten ist eben nur ein Vorspiel von Ostern, und was jene
verheißt, wird diese erfüllen. Es ist daher einerlei Sinn, ob der Grieche die
vom Schattengott geraubte Proserpina durch ihre Mutter beim Aehrenlesen
wieder auffinden läßt, oder ob unser deutscher Bauer jetzt den Feuerheerd kehrt
in der Meinung, es falle in dieser Mitternacht Frucht vom Himmel. Es ist
einerlei Sinn, ob der Heitere von einer dem Bacchos geheiligten Quelle auf
Andros behauptete, hier fließe an jedem neunten Januar statt Wassers Wein;
oder ob beim tiroler Schlosse Neifenstein die Tochter des Lehensbauern, als sie
am Schloßbrunnen Wasser holen wollte, edeln Weizen aus der Brunnenröhre
rinnen sah und den Krug voll anließ. (Vernaleken, Oestreich. Mythen 260).
Nach kirchlicher Legende fing in der ersten Christnacht ein Weinberg bei Beth¬
lehem an zu blühen und zeitige Trauben zu tragen; zu Rom entsprang im
Judenviertel gleichzeitig ein Oelbrunnen und ergoß sich in die Tiber. Nicht
blos in der katholischen Landschaft des Fricklhales, auch in den altreformirten
Bezirken an der untern Aare gilt der Glaube, in der Christnacht lege sich eine
dünne Haut von Wein oder von Milchrahm über das Wasser des Brunnen-
trogcs; das Rind, das von diesem "Nidelwasscr" trinkt, wird das stärkste, und
das Kind, das davon zuerst am Brunnen schöpft, das schönste im Dorfe. Es
wird daher in der Christnacht allenthalben das Brunnenwasser rückwärts ge¬
schöpft und in zwei Schüsseln heimgetragen; die eine davon ist "die Schüssel
des lieben Viehes", sie ist schon vom Jesuskinde im Kripplein gesegnet worden
und heilt nun jedes Uebel im Stalle; die andere Schüssel dient zum Liebcs-
orakcl. Gott weihe dich, Gott beschütze dich! spricht oas ledige Mädchen, die
Schüssel vors Haus stellend, um sie über Nacht gefrieren zu lassen. Aus den
darin entstehenden Eisnadeln deutet sie sich die Form von allerlei Handwerks¬
zeug und schließt damit auf die Berufsart ihres künftigen Mannes. Aber da
schleichen sich dann die Burschen herbei, um ihr ein wirkliches Merkzeichen der
Liebe oder auch wohl ein gröbliches Emblem des Spottes in die Schüssel zu
werfen. Nach dem Glauben des deutschen Heiden war alles mit Gnade ge¬
segnet, dem der Blick der Gottler begegnete, wenn sie in den Weihnachten
durch das Land zogen oder durch die Lüfte fuhren. Der Thau, der aus den
Mähnen ihrer Rosse niedertriefte, hieß Heilawag und behielt diesen Namen und
seine Bedeutung lange nachher noch im barrer Lande bei, wie aus dem Chro¬
nisten Valerius Anshelm zu ersehen ist; er gedieh jedem Gläubigen zu einem
Weihbrunn und Liebestrank. Als solcher befruchtet er Acker und Weinberg,
besprengt weihend und schützend Haus und Hausgenossen und wandelt sich, wie
schon im galiläischen Kana geschehen, liebenden treuen Herzen zu einem hoch¬
zeitlichen Wein um. Die Kirche, die alles menschlich Berechtigte in ihre Kreise
zu ziehen begehrte, läßt am 26. und 27. December den Stephans- und Johannis-
wein verabreichen, vom S. Januar an das Dreikönigswasser einsegnen, Feld


Grenzboten IV. 1864. 64

hervor. Weihnachten ist eben nur ein Vorspiel von Ostern, und was jene
verheißt, wird diese erfüllen. Es ist daher einerlei Sinn, ob der Grieche die
vom Schattengott geraubte Proserpina durch ihre Mutter beim Aehrenlesen
wieder auffinden läßt, oder ob unser deutscher Bauer jetzt den Feuerheerd kehrt
in der Meinung, es falle in dieser Mitternacht Frucht vom Himmel. Es ist
einerlei Sinn, ob der Heitere von einer dem Bacchos geheiligten Quelle auf
Andros behauptete, hier fließe an jedem neunten Januar statt Wassers Wein;
oder ob beim tiroler Schlosse Neifenstein die Tochter des Lehensbauern, als sie
am Schloßbrunnen Wasser holen wollte, edeln Weizen aus der Brunnenröhre
rinnen sah und den Krug voll anließ. (Vernaleken, Oestreich. Mythen 260).
Nach kirchlicher Legende fing in der ersten Christnacht ein Weinberg bei Beth¬
lehem an zu blühen und zeitige Trauben zu tragen; zu Rom entsprang im
Judenviertel gleichzeitig ein Oelbrunnen und ergoß sich in die Tiber. Nicht
blos in der katholischen Landschaft des Fricklhales, auch in den altreformirten
Bezirken an der untern Aare gilt der Glaube, in der Christnacht lege sich eine
dünne Haut von Wein oder von Milchrahm über das Wasser des Brunnen-
trogcs; das Rind, das von diesem „Nidelwasscr" trinkt, wird das stärkste, und
das Kind, das davon zuerst am Brunnen schöpft, das schönste im Dorfe. Es
wird daher in der Christnacht allenthalben das Brunnenwasser rückwärts ge¬
schöpft und in zwei Schüsseln heimgetragen; die eine davon ist „die Schüssel
des lieben Viehes", sie ist schon vom Jesuskinde im Kripplein gesegnet worden
und heilt nun jedes Uebel im Stalle; die andere Schüssel dient zum Liebcs-
orakcl. Gott weihe dich, Gott beschütze dich! spricht oas ledige Mädchen, die
Schüssel vors Haus stellend, um sie über Nacht gefrieren zu lassen. Aus den
darin entstehenden Eisnadeln deutet sie sich die Form von allerlei Handwerks¬
zeug und schließt damit auf die Berufsart ihres künftigen Mannes. Aber da
schleichen sich dann die Burschen herbei, um ihr ein wirkliches Merkzeichen der
Liebe oder auch wohl ein gröbliches Emblem des Spottes in die Schüssel zu
werfen. Nach dem Glauben des deutschen Heiden war alles mit Gnade ge¬
segnet, dem der Blick der Gottler begegnete, wenn sie in den Weihnachten
durch das Land zogen oder durch die Lüfte fuhren. Der Thau, der aus den
Mähnen ihrer Rosse niedertriefte, hieß Heilawag und behielt diesen Namen und
seine Bedeutung lange nachher noch im barrer Lande bei, wie aus dem Chro¬
nisten Valerius Anshelm zu ersehen ist; er gedieh jedem Gläubigen zu einem
Weihbrunn und Liebestrank. Als solcher befruchtet er Acker und Weinberg,
besprengt weihend und schützend Haus und Hausgenossen und wandelt sich, wie
schon im galiläischen Kana geschehen, liebenden treuen Herzen zu einem hoch¬
zeitlichen Wein um. Die Kirche, die alles menschlich Berechtigte in ihre Kreise
zu ziehen begehrte, läßt am 26. und 27. December den Stephans- und Johannis-
wein verabreichen, vom S. Januar an das Dreikönigswasser einsegnen, Feld


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/509>, abgerufen am 03.07.2024.