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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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"ahn. Ueberall findet sich unter den Gartenbäumen ein alter Günstling, der
dem Wohnhause zunächst und in der Phantasie der obstnaschenden Kinder zu
oberst steht. Dieser wird nun geschätzt und geküsset. Man schätzet ihn, indem
man alle Nuß- und Apfelschalen nebst dem übrigen Abraum vom Eßtische um
seinen Stamm schüttet; und man küsset ihn, indem man ihm ein frischgewun¬
denes Strohband umbindet, i" das zum Ueberfluß eine Kupfermünze verborgen
wird, damit er auf diesem Strohküssen erwache und nicht Übergängen werde,
wenn nun die Himmelsmutter kommt und ihre Reichthümer austheilt. Denn
Gott, sagt das Sprichwort, bescheert über Nacht, er giebts den Seinigen im
Schlafe. Dann wird sich das taube Stroh in Korn verwandeln und das Wei-
zenkorn sammt der ins Band gesteckten Kupfermünze in Gold. Mit den vom
Kneten des Weihnaclitsbrodes noch teigigen Armen tritt die Hvfbäuerin zum
Baum und umarmt ihn; der Hausvater klopft und schüttelt ihn: Auf, Baum,
Weihnachten ists, bring Aepfel und Birnen! Diese Bermessenheit des Volks¬
glaubens, die unserm Verstand dabei so unbequem fällt, heißt bei den Bauern
eine bloße Grille; wenn's Gott will, grünt ein Besenstiel, sagt er.

Der Glaube geht aber noch um einen bedeutenden Schritt weiter; erläßt
den Apfelbaum in der Christnacht eine Mitternachtsstunde lang Blüthen und
Früchte zugleich trage", und seit dem zwölften Jahrhundert schon erzählt unsre
deutsche Dichtung von solchen örtlichen Wunderbäumen. Einer stand an der
Sarmenstorfer Einsiedelei (Aargau. Sag. 1, Ur. 69.); ein gleicher im Würz¬
burger Stifte; ein andrer zu Gera ist dadurch berühmt, daß als geschichtliche
Thatsache angeführt wird, es seien von ihm wirtlich reife Aepfel in der Christ¬
nacht gebrochen worden. Ein vierter dieser Art stand zu Tribur am Rhein
und seine in der Christnacht reifenden Aepfel hatten die Bestimmung, jährlich
dem Landgrafen von Hessen "verbracht zu werden: "kleine wohlschmackendc
äpfelin, ein herrlich Wunderwerk der Art wie man auch an den rohen von
Jericho sihet", schreibt Haffner. (Solothurnischer Schauplatz 1, 268.) Man
nannte sie Dräutleinsäpfel, entweder abgeleitet von der si. Gertrudennacht,
oder von unsres Herrn (ahd. t.rolrtin) Geburtsnacht, wie denn auch Othinus
Beiname Thrudr und die Nacht seines Erscheinens die Wunschnacht ist, in
welcher alle Schätze sich sonnen, alle Wunder sicherfüllen und der Wunschbaum
blüht. In dieser Nacht schüttelt man daher von den Christbäumen das Süß-
brod, von den nackten Reisern die Zuckerbretzen, von der Fichtendolde das
Kind zugleich in seinen neuen Sonntagskleidern. -- Von dem im badischen
Schwarzwalde und im Züricherlande verbreiteten Geschlecht der Dotter behauptet
die Sage, sein Ahnherr sei als Säugling auf einem Baumwipfel am Rhein
gefunden worden. Und darum hängt auch dieses alles in kkÜFw oder in natui'g,
zusammen auf unserm Weihnachtsbaum, denn er ist ein Zeitmesser des Jahres
und trägt daher an seinen aufgestaffelten Fichtenzweigen die ganze Scala von


»ahn. Ueberall findet sich unter den Gartenbäumen ein alter Günstling, der
dem Wohnhause zunächst und in der Phantasie der obstnaschenden Kinder zu
oberst steht. Dieser wird nun geschätzt und geküsset. Man schätzet ihn, indem
man alle Nuß- und Apfelschalen nebst dem übrigen Abraum vom Eßtische um
seinen Stamm schüttet; und man küsset ihn, indem man ihm ein frischgewun¬
denes Strohband umbindet, i» das zum Ueberfluß eine Kupfermünze verborgen
wird, damit er auf diesem Strohküssen erwache und nicht Übergängen werde,
wenn nun die Himmelsmutter kommt und ihre Reichthümer austheilt. Denn
Gott, sagt das Sprichwort, bescheert über Nacht, er giebts den Seinigen im
Schlafe. Dann wird sich das taube Stroh in Korn verwandeln und das Wei-
zenkorn sammt der ins Band gesteckten Kupfermünze in Gold. Mit den vom
Kneten des Weihnaclitsbrodes noch teigigen Armen tritt die Hvfbäuerin zum
Baum und umarmt ihn; der Hausvater klopft und schüttelt ihn: Auf, Baum,
Weihnachten ists, bring Aepfel und Birnen! Diese Bermessenheit des Volks¬
glaubens, die unserm Verstand dabei so unbequem fällt, heißt bei den Bauern
eine bloße Grille; wenn's Gott will, grünt ein Besenstiel, sagt er.

Der Glaube geht aber noch um einen bedeutenden Schritt weiter; erläßt
den Apfelbaum in der Christnacht eine Mitternachtsstunde lang Blüthen und
Früchte zugleich trage», und seit dem zwölften Jahrhundert schon erzählt unsre
deutsche Dichtung von solchen örtlichen Wunderbäumen. Einer stand an der
Sarmenstorfer Einsiedelei (Aargau. Sag. 1, Ur. 69.); ein gleicher im Würz¬
burger Stifte; ein andrer zu Gera ist dadurch berühmt, daß als geschichtliche
Thatsache angeführt wird, es seien von ihm wirtlich reife Aepfel in der Christ¬
nacht gebrochen worden. Ein vierter dieser Art stand zu Tribur am Rhein
und seine in der Christnacht reifenden Aepfel hatten die Bestimmung, jährlich
dem Landgrafen von Hessen »verbracht zu werden: „kleine wohlschmackendc
äpfelin, ein herrlich Wunderwerk der Art wie man auch an den rohen von
Jericho sihet", schreibt Haffner. (Solothurnischer Schauplatz 1, 268.) Man
nannte sie Dräutleinsäpfel, entweder abgeleitet von der si. Gertrudennacht,
oder von unsres Herrn (ahd. t.rolrtin) Geburtsnacht, wie denn auch Othinus
Beiname Thrudr und die Nacht seines Erscheinens die Wunschnacht ist, in
welcher alle Schätze sich sonnen, alle Wunder sicherfüllen und der Wunschbaum
blüht. In dieser Nacht schüttelt man daher von den Christbäumen das Süß-
brod, von den nackten Reisern die Zuckerbretzen, von der Fichtendolde das
Kind zugleich in seinen neuen Sonntagskleidern. — Von dem im badischen
Schwarzwalde und im Züricherlande verbreiteten Geschlecht der Dotter behauptet
die Sage, sein Ahnherr sei als Säugling auf einem Baumwipfel am Rhein
gefunden worden. Und darum hängt auch dieses alles in kkÜFw oder in natui'g,
zusammen auf unserm Weihnachtsbaum, denn er ist ein Zeitmesser des Jahres
und trägt daher an seinen aufgestaffelten Fichtenzweigen die ganze Scala von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/506>, abgerufen am 03.07.2024.