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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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die wirthschaftliche Geschichte aller Länder und auch ganz besonders Frankreichs
zur Belebung der neuen Aufstellungen entrollt wird, bleibt der Socialismus
fast unbeachtet. Diese uns nicht ganz gewohnte Vernachlässigung erklärt sich
theils aus dem Standpunkt des Amerikaners, theils aus der, wie gesagt, welt¬
historischen Perspective seines ganzen Systems. Carey liebt es, manche Ver-
irrungen indirect und stillschweigend zu widerlegen, und zu diesen gehören auch
die socialistischen Träume, denen noch ein Stuart Mill eine längere Darstellung
widmet. Dagegen läßt es Carey sich angelegen sein, die von ihm für irrthüm¬
lich gehaltenen praktisch bedeutsamen Ansichten der Zeitgenossen ausführlich zu
widerlegen und unermüdlich zu bekämpfen. Auf diesem Gebiet ist seine social¬
politische Bedeutung vornehmlich zu suchen, und wir werden sogleich an eini¬
gen seiner hervorragendsten Aufstellungen erfahren, wie wohlthätig er mit sei¬
ner Kritik den dogmatischen Glauben an gewisse Zeitvorstellungen angreift.

Um gleich mit derjenigen Ansicht zu beginnen, welche mit den herrschenden
Principien am meisten in Widerspruch steht, so ist Carey, nachdem er in seinen
früheren Werken den allgemeinen Glauben an die wohlthätigen Wirkungen des
Freihandels gehuldigt, schließlich fast -- zum Schuhzöllner geworden. Ich sage
absichtlich "fast"; denn zwischen den gewöhnlichen Anhängern des Schutzzolles
und zwischen der Art, wie Carey ihn vertheidigt, besteht ein erheblicher Unter¬
schied. Jene lassen sich von den unmittelbaren Interessen leiten, und diese
Interessen sind in den meisten Fällen nur die ausschließlichen Vortheile einer be¬
stimmten gesellschaftlichen Gruppe. Carey ist, wie er uns selbst sagt, erst ganz
zuletzt durch den nothwendigen Zusammenhang seiner Grundanschauungen und
durch die Beobachtung der wechselnden Politik der Vereinigten Staaten genöthigt
worden, seineu ursprünglichen guten Glauben an das Freihandelsprincip auf¬
zugeben. Indem wir es versuchen, die Gründe darzulegen, welche Carey wenn
auch nicht zum principiellen Gegner des Strebens nach schließlicher allgemeiner
Handelsfreiheit, so doch zum Vertheidiger einer unter gewissen Verhältnissen noch
heute bestehenden Nothwendigkeit der Schutzzölle gemacht haben, werden wir
uns genöthigt sehen, die Hauptpunkte seines ganzen socialpolitisch erheblichen
Gedankenkreises zu berühren.

Die politische Decentralisation d. h. die Belebung des localen Gemcinde-
lebens ist ein unserer Zeit geläufiges Thema. Carey tritt nun auch als Ver¬
theidiger der wirtschaftlichen Decentralisation und zwar in dem größten Ma߬
stabe auf. Es ist zunächst die übermäßige Centralisation der Wcltindustrie, welche
er als entschieden nachtheilig bezeichnet. In der früheren und zum Theil noch
jetzt befolgten Politik Englands, sich womöglich zur einzigen Fabrikstädte der
Welt und zum alleinigen Inhaber des Handelsapparatcs zu machen, sieht er
das Verderben der Völker. Die Wirthschaften derjenigen Nationen, welche nach
dem Muster der englischen Politik d. h. unter dem Drucke und nach den Inder-


die wirthschaftliche Geschichte aller Länder und auch ganz besonders Frankreichs
zur Belebung der neuen Aufstellungen entrollt wird, bleibt der Socialismus
fast unbeachtet. Diese uns nicht ganz gewohnte Vernachlässigung erklärt sich
theils aus dem Standpunkt des Amerikaners, theils aus der, wie gesagt, welt¬
historischen Perspective seines ganzen Systems. Carey liebt es, manche Ver-
irrungen indirect und stillschweigend zu widerlegen, und zu diesen gehören auch
die socialistischen Träume, denen noch ein Stuart Mill eine längere Darstellung
widmet. Dagegen läßt es Carey sich angelegen sein, die von ihm für irrthüm¬
lich gehaltenen praktisch bedeutsamen Ansichten der Zeitgenossen ausführlich zu
widerlegen und unermüdlich zu bekämpfen. Auf diesem Gebiet ist seine social¬
politische Bedeutung vornehmlich zu suchen, und wir werden sogleich an eini¬
gen seiner hervorragendsten Aufstellungen erfahren, wie wohlthätig er mit sei¬
ner Kritik den dogmatischen Glauben an gewisse Zeitvorstellungen angreift.

Um gleich mit derjenigen Ansicht zu beginnen, welche mit den herrschenden
Principien am meisten in Widerspruch steht, so ist Carey, nachdem er in seinen
früheren Werken den allgemeinen Glauben an die wohlthätigen Wirkungen des
Freihandels gehuldigt, schließlich fast — zum Schuhzöllner geworden. Ich sage
absichtlich „fast"; denn zwischen den gewöhnlichen Anhängern des Schutzzolles
und zwischen der Art, wie Carey ihn vertheidigt, besteht ein erheblicher Unter¬
schied. Jene lassen sich von den unmittelbaren Interessen leiten, und diese
Interessen sind in den meisten Fällen nur die ausschließlichen Vortheile einer be¬
stimmten gesellschaftlichen Gruppe. Carey ist, wie er uns selbst sagt, erst ganz
zuletzt durch den nothwendigen Zusammenhang seiner Grundanschauungen und
durch die Beobachtung der wechselnden Politik der Vereinigten Staaten genöthigt
worden, seineu ursprünglichen guten Glauben an das Freihandelsprincip auf¬
zugeben. Indem wir es versuchen, die Gründe darzulegen, welche Carey wenn
auch nicht zum principiellen Gegner des Strebens nach schließlicher allgemeiner
Handelsfreiheit, so doch zum Vertheidiger einer unter gewissen Verhältnissen noch
heute bestehenden Nothwendigkeit der Schutzzölle gemacht haben, werden wir
uns genöthigt sehen, die Hauptpunkte seines ganzen socialpolitisch erheblichen
Gedankenkreises zu berühren.

Die politische Decentralisation d. h. die Belebung des localen Gemcinde-
lebens ist ein unserer Zeit geläufiges Thema. Carey tritt nun auch als Ver¬
theidiger der wirtschaftlichen Decentralisation und zwar in dem größten Ma߬
stabe auf. Es ist zunächst die übermäßige Centralisation der Wcltindustrie, welche
er als entschieden nachtheilig bezeichnet. In der früheren und zum Theil noch
jetzt befolgten Politik Englands, sich womöglich zur einzigen Fabrikstädte der
Welt und zum alleinigen Inhaber des Handelsapparatcs zu machen, sieht er
das Verderben der Völker. Die Wirthschaften derjenigen Nationen, welche nach
dem Muster der englischen Politik d. h. unter dem Drucke und nach den Inder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/50>, abgerufen am 01.07.2024.