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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Stroh gebundene Weihnachtsmaske heißt in Mitteldeutschland Erbsenbär. Die
an die Fensterscheibe klirrend geworfene Erbse ist ein Abbild des Donnersteins
und der Donnerkugel, mit ihrem Geräusche verjagt man die Winterstürme aus
der Landschaft und lockt die befruchtenden Frühlingsgewitter herbei. Der Erbis-
berg bei sckwäbisch Röttingen läßt kein Gewitter ins Dorf herein. ") So oft
es donnert, versteckt sich das Zwergenvolk in Eibsenfcldern. Wie man sich
daher schon im alten Rom bei den Circusspielen mit Nüssen und Erbsen vewarf,
so bewerfen sich auch die heutigen Italiener beim Carneval mit Confetti und
Coriandoli; ja selbst die Bauern in der Ukraine, die ihren Gutsherrn das
Neujahr durch ihre Kinder anwünschen lassen, nennen dies "BeWerfen". Jeder
Knabe bewirft ihn dann mit einem Hagel von Erbsen, Roggen- und Weizen¬
körnern und ruft: Gott gebe Roggen, Weizen und alles Getreide! Gewitter-
gottheiten sind bescheerende und zugleich verheerende; denselben Doppelsinn
haben ihre Symbole Erbse und Nuß. In der ganzen Schweiz beginnt vom
Nikolausabend an das Nußspiel, ehemals das einzige Glücksspiel, das in den
demokratischen Kantonen gesetzlich gestattet war. Das Landbuch von Schwyz
verbietet 1518 alles Spiel "eurer dann on ein Ritter oder on Nuß". Auch
die krachende Welschnuß gehört mit zu den Attributen der Gcwittergottheit,
deren Vorbote Nikolaus ist; er wird daher durch die Nuß symbolisüt. Die Holz¬
schnitte der ältesten Schweizerkalender fallen in die Zeit des züncher Buchdruckers
Frvschaucr, der seine Formen mit aus seiner Vaterstadt Rottweil ins Land ge¬
bracht hatte. Diese Holzstöcke sind von der folgenden Zeit fort und fort copiert
worden, so daß sie zum Theil sogar noch in dem kleinen Zuger-Kalender v. I.
1823 erscheinen. In diesem ist der Nikolaustag durch ein Bibelbuch bezeichnet,
auf dessen Deckel drei goldne Welschnüsse "im Luder" liegen; d. h. über den
zwei unteren liegt die dritte gehäuft, so wie sie nach der Spielregel der Kinder-
welt zum Spielziele angesetzt werden müssen. Die christliche Kunst hat diese drei
Nüsse in drei goldne Brode verwandelt, mit denen der Heilige die Armen speist,
und in drei goldne Aepfel gleichsam vom Baume des Lebens, weil er einst drei
lycischen Jungfrauen die keusche Seele gerettet hatte. Bezeichnet daher die Christ¬
birne dem frickthaler Bauern alles Obst zur Weihnachtsbescheerung, so gilt ihm für
das Klauscnsest nur der Kiausenapfcl, der gerade auf diese Frist mürb wird und
dabei schön rvthbrechlig bleibt. Um solche Aepfel betet das Kind in der fran¬
zösischen Schweiz:

Das Kind in der deutschen Schweiz parodirt den welschen Reim indem



') Vgl. Birlinger, Schwab, Sag. 1., No. 30(i,

Stroh gebundene Weihnachtsmaske heißt in Mitteldeutschland Erbsenbär. Die
an die Fensterscheibe klirrend geworfene Erbse ist ein Abbild des Donnersteins
und der Donnerkugel, mit ihrem Geräusche verjagt man die Winterstürme aus
der Landschaft und lockt die befruchtenden Frühlingsgewitter herbei. Der Erbis-
berg bei sckwäbisch Röttingen läßt kein Gewitter ins Dorf herein. ") So oft
es donnert, versteckt sich das Zwergenvolk in Eibsenfcldern. Wie man sich
daher schon im alten Rom bei den Circusspielen mit Nüssen und Erbsen vewarf,
so bewerfen sich auch die heutigen Italiener beim Carneval mit Confetti und
Coriandoli; ja selbst die Bauern in der Ukraine, die ihren Gutsherrn das
Neujahr durch ihre Kinder anwünschen lassen, nennen dies „BeWerfen". Jeder
Knabe bewirft ihn dann mit einem Hagel von Erbsen, Roggen- und Weizen¬
körnern und ruft: Gott gebe Roggen, Weizen und alles Getreide! Gewitter-
gottheiten sind bescheerende und zugleich verheerende; denselben Doppelsinn
haben ihre Symbole Erbse und Nuß. In der ganzen Schweiz beginnt vom
Nikolausabend an das Nußspiel, ehemals das einzige Glücksspiel, das in den
demokratischen Kantonen gesetzlich gestattet war. Das Landbuch von Schwyz
verbietet 1518 alles Spiel „eurer dann on ein Ritter oder on Nuß". Auch
die krachende Welschnuß gehört mit zu den Attributen der Gcwittergottheit,
deren Vorbote Nikolaus ist; er wird daher durch die Nuß symbolisüt. Die Holz¬
schnitte der ältesten Schweizerkalender fallen in die Zeit des züncher Buchdruckers
Frvschaucr, der seine Formen mit aus seiner Vaterstadt Rottweil ins Land ge¬
bracht hatte. Diese Holzstöcke sind von der folgenden Zeit fort und fort copiert
worden, so daß sie zum Theil sogar noch in dem kleinen Zuger-Kalender v. I.
1823 erscheinen. In diesem ist der Nikolaustag durch ein Bibelbuch bezeichnet,
auf dessen Deckel drei goldne Welschnüsse „im Luder" liegen; d. h. über den
zwei unteren liegt die dritte gehäuft, so wie sie nach der Spielregel der Kinder-
welt zum Spielziele angesetzt werden müssen. Die christliche Kunst hat diese drei
Nüsse in drei goldne Brode verwandelt, mit denen der Heilige die Armen speist,
und in drei goldne Aepfel gleichsam vom Baume des Lebens, weil er einst drei
lycischen Jungfrauen die keusche Seele gerettet hatte. Bezeichnet daher die Christ¬
birne dem frickthaler Bauern alles Obst zur Weihnachtsbescheerung, so gilt ihm für
das Klauscnsest nur der Kiausenapfcl, der gerade auf diese Frist mürb wird und
dabei schön rvthbrechlig bleibt. Um solche Aepfel betet das Kind in der fran¬
zösischen Schweiz:

Das Kind in der deutschen Schweiz parodirt den welschen Reim indem



') Vgl. Birlinger, Schwab, Sag. 1., No. 30(i,
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[0384] Stroh gebundene Weihnachtsmaske heißt in Mitteldeutschland Erbsenbär. Die an die Fensterscheibe klirrend geworfene Erbse ist ein Abbild des Donnersteins und der Donnerkugel, mit ihrem Geräusche verjagt man die Winterstürme aus der Landschaft und lockt die befruchtenden Frühlingsgewitter herbei. Der Erbis- berg bei sckwäbisch Röttingen läßt kein Gewitter ins Dorf herein. ") So oft es donnert, versteckt sich das Zwergenvolk in Eibsenfcldern. Wie man sich daher schon im alten Rom bei den Circusspielen mit Nüssen und Erbsen vewarf, so bewerfen sich auch die heutigen Italiener beim Carneval mit Confetti und Coriandoli; ja selbst die Bauern in der Ukraine, die ihren Gutsherrn das Neujahr durch ihre Kinder anwünschen lassen, nennen dies „BeWerfen". Jeder Knabe bewirft ihn dann mit einem Hagel von Erbsen, Roggen- und Weizen¬ körnern und ruft: Gott gebe Roggen, Weizen und alles Getreide! Gewitter- gottheiten sind bescheerende und zugleich verheerende; denselben Doppelsinn haben ihre Symbole Erbse und Nuß. In der ganzen Schweiz beginnt vom Nikolausabend an das Nußspiel, ehemals das einzige Glücksspiel, das in den demokratischen Kantonen gesetzlich gestattet war. Das Landbuch von Schwyz verbietet 1518 alles Spiel „eurer dann on ein Ritter oder on Nuß". Auch die krachende Welschnuß gehört mit zu den Attributen der Gcwittergottheit, deren Vorbote Nikolaus ist; er wird daher durch die Nuß symbolisüt. Die Holz¬ schnitte der ältesten Schweizerkalender fallen in die Zeit des züncher Buchdruckers Frvschaucr, der seine Formen mit aus seiner Vaterstadt Rottweil ins Land ge¬ bracht hatte. Diese Holzstöcke sind von der folgenden Zeit fort und fort copiert worden, so daß sie zum Theil sogar noch in dem kleinen Zuger-Kalender v. I. 1823 erscheinen. In diesem ist der Nikolaustag durch ein Bibelbuch bezeichnet, auf dessen Deckel drei goldne Welschnüsse „im Luder" liegen; d. h. über den zwei unteren liegt die dritte gehäuft, so wie sie nach der Spielregel der Kinder- welt zum Spielziele angesetzt werden müssen. Die christliche Kunst hat diese drei Nüsse in drei goldne Brode verwandelt, mit denen der Heilige die Armen speist, und in drei goldne Aepfel gleichsam vom Baume des Lebens, weil er einst drei lycischen Jungfrauen die keusche Seele gerettet hatte. Bezeichnet daher die Christ¬ birne dem frickthaler Bauern alles Obst zur Weihnachtsbescheerung, so gilt ihm für das Klauscnsest nur der Kiausenapfcl, der gerade auf diese Frist mürb wird und dabei schön rvthbrechlig bleibt. Um solche Aepfel betet das Kind in der fran¬ zösischen Schweiz: Das Kind in der deutschen Schweiz parodirt den welschen Reim indem ') Vgl. Birlinger, Schwab, Sag. 1., No. 30(i,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/384>, abgerufen am 22.07.2024.