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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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von Gemüthsantheil nach souveräner Wahl verfügt und sich wenig um die
Billigkeit kümmert. Eine Ausgleichung gewährt nur der Umstand, daß es in
der Regel mit der Kehrseite dieses Verhältnisses ebenso bestellt ist, daß nämlich
auch der Haß ungleich vertheilt zu werden pflegt und etliche Häupter mit un¬
gebührlicher Schwere trifft, während andere trotz ihres Verdienstes leer ausgehn.
Denn es ist eine überall wiederkehrende Beobachtung: wo überhaupt das Volk
liebt oder haßt, da liebt und haßt es voll und ganz. Die Mittelgrade histo¬
rischer Würdigung gehen ihm ab wie dem Kinde, das auch keinen dritten Rang
der Empfindung kennt. Diesen herzustellen und die unbillige Vertheilung solcher
Neigungen und Abneigungen zu berichtigen, ist hier wie dort das schwerste
Stück der Pädagogik, weil sie den Kampf aufzunehmen hat mit dem incommen-
surabeln Etwas, das man Instinkt heißt, und das leicht auch die stählernsten
Gründe wie Papier zerbricht, oder sie aufzunehmen kein Organ hat.

Im letzten Grunde scheint nun freilich alles populäre Urtheil und Vor¬
urtheil auf den Gang der Tradition und auf ihre Bearbeitung durch die Wissen¬
schaft der Geschichte zurückgeführt werden zu müssen. Allein es wäre unrecht,
wollte man die Wissenschaft einfach verantwortlich machen für jeu^' Erscheinungen.
Es wäre ein ähnlicher Fehler als wenn man vom Erzieher Rechenschaft ve"
langte für die Grundneigungen des Schülers, auf die er vielmehr nur dalni
bestimmenden Einfluß gewinnen kann, wenn er von vorn herein einen gewissen
Compromiß mit ihnen eingeht. Beim Volksinstinktc, der an conservativer
Zähigkeit dem Kindesgemüthe nichts nachgiebt, lonunt noch hinzu, daß er sich
der stetigen Einwirkung durch die Wissenschaft entzieht. Wie zufällig ist oft
die Art der Uebermittelung wissenschaftlicher Resultate an das Volk, wie sehr
ist auch sie wieder den Launen der primitiven Neigung unterworfen, welche je
nach dem Angesichte dessen, der lehrhaft vor sie tritt, hier sich öffnet, dort sich
verschließt. In wie unzähligen Fällen ist auch das glänzendste Plaidoyer des
Historikers dem Ohre des Volkes ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.
Es bedarf meist ganz unberechenbarer Mittel und günstiger Zufälle, wenn es
den feinen und verborgenen Fasern der Aneignung zugänglich werden soll, die
das Herz des Volkes umgeben. Gewiß, einmal kommt alle Wahrheit zu ihrem
Recht; aber die historische hal darin keinen Vorzug vor jeder andern, so sehr
sie auch ihrem Inhalte nach des nähern Interesses gewiß scheint. Für das Volk
braucht auch die Geschichtsauffassung der Beglaubigung durch die Zeit und
manche Resultate historischer Forschung werden erst Eigenthum einer Nation,
wenn ihre Urheber lange dahin sind und wenn die Wissenschaft als solche auf
sie bereits einen ragenden Bau gegründet hat.

Was nun die Würdigung des großen Kurfürsten betrifft, so darf nicht ge-
läugnei werden, daß die Geschichtswissenschaft einige Mitschuld daran trägt,
daß sein Bild nicht in der ganzen Hoheit und Größe vor der Seele


von Gemüthsantheil nach souveräner Wahl verfügt und sich wenig um die
Billigkeit kümmert. Eine Ausgleichung gewährt nur der Umstand, daß es in
der Regel mit der Kehrseite dieses Verhältnisses ebenso bestellt ist, daß nämlich
auch der Haß ungleich vertheilt zu werden pflegt und etliche Häupter mit un¬
gebührlicher Schwere trifft, während andere trotz ihres Verdienstes leer ausgehn.
Denn es ist eine überall wiederkehrende Beobachtung: wo überhaupt das Volk
liebt oder haßt, da liebt und haßt es voll und ganz. Die Mittelgrade histo¬
rischer Würdigung gehen ihm ab wie dem Kinde, das auch keinen dritten Rang
der Empfindung kennt. Diesen herzustellen und die unbillige Vertheilung solcher
Neigungen und Abneigungen zu berichtigen, ist hier wie dort das schwerste
Stück der Pädagogik, weil sie den Kampf aufzunehmen hat mit dem incommen-
surabeln Etwas, das man Instinkt heißt, und das leicht auch die stählernsten
Gründe wie Papier zerbricht, oder sie aufzunehmen kein Organ hat.

Im letzten Grunde scheint nun freilich alles populäre Urtheil und Vor¬
urtheil auf den Gang der Tradition und auf ihre Bearbeitung durch die Wissen¬
schaft der Geschichte zurückgeführt werden zu müssen. Allein es wäre unrecht,
wollte man die Wissenschaft einfach verantwortlich machen für jeu^' Erscheinungen.
Es wäre ein ähnlicher Fehler als wenn man vom Erzieher Rechenschaft ve»
langte für die Grundneigungen des Schülers, auf die er vielmehr nur dalni
bestimmenden Einfluß gewinnen kann, wenn er von vorn herein einen gewissen
Compromiß mit ihnen eingeht. Beim Volksinstinktc, der an conservativer
Zähigkeit dem Kindesgemüthe nichts nachgiebt, lonunt noch hinzu, daß er sich
der stetigen Einwirkung durch die Wissenschaft entzieht. Wie zufällig ist oft
die Art der Uebermittelung wissenschaftlicher Resultate an das Volk, wie sehr
ist auch sie wieder den Launen der primitiven Neigung unterworfen, welche je
nach dem Angesichte dessen, der lehrhaft vor sie tritt, hier sich öffnet, dort sich
verschließt. In wie unzähligen Fällen ist auch das glänzendste Plaidoyer des
Historikers dem Ohre des Volkes ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.
Es bedarf meist ganz unberechenbarer Mittel und günstiger Zufälle, wenn es
den feinen und verborgenen Fasern der Aneignung zugänglich werden soll, die
das Herz des Volkes umgeben. Gewiß, einmal kommt alle Wahrheit zu ihrem
Recht; aber die historische hal darin keinen Vorzug vor jeder andern, so sehr
sie auch ihrem Inhalte nach des nähern Interesses gewiß scheint. Für das Volk
braucht auch die Geschichtsauffassung der Beglaubigung durch die Zeit und
manche Resultate historischer Forschung werden erst Eigenthum einer Nation,
wenn ihre Urheber lange dahin sind und wenn die Wissenschaft als solche auf
sie bereits einen ragenden Bau gegründet hat.

Was nun die Würdigung des großen Kurfürsten betrifft, so darf nicht ge-
läugnei werden, daß die Geschichtswissenschaft einige Mitschuld daran trägt,
daß sein Bild nicht in der ganzen Hoheit und Größe vor der Seele


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[0366] von Gemüthsantheil nach souveräner Wahl verfügt und sich wenig um die Billigkeit kümmert. Eine Ausgleichung gewährt nur der Umstand, daß es in der Regel mit der Kehrseite dieses Verhältnisses ebenso bestellt ist, daß nämlich auch der Haß ungleich vertheilt zu werden pflegt und etliche Häupter mit un¬ gebührlicher Schwere trifft, während andere trotz ihres Verdienstes leer ausgehn. Denn es ist eine überall wiederkehrende Beobachtung: wo überhaupt das Volk liebt oder haßt, da liebt und haßt es voll und ganz. Die Mittelgrade histo¬ rischer Würdigung gehen ihm ab wie dem Kinde, das auch keinen dritten Rang der Empfindung kennt. Diesen herzustellen und die unbillige Vertheilung solcher Neigungen und Abneigungen zu berichtigen, ist hier wie dort das schwerste Stück der Pädagogik, weil sie den Kampf aufzunehmen hat mit dem incommen- surabeln Etwas, das man Instinkt heißt, und das leicht auch die stählernsten Gründe wie Papier zerbricht, oder sie aufzunehmen kein Organ hat. Im letzten Grunde scheint nun freilich alles populäre Urtheil und Vor¬ urtheil auf den Gang der Tradition und auf ihre Bearbeitung durch die Wissen¬ schaft der Geschichte zurückgeführt werden zu müssen. Allein es wäre unrecht, wollte man die Wissenschaft einfach verantwortlich machen für jeu^' Erscheinungen. Es wäre ein ähnlicher Fehler als wenn man vom Erzieher Rechenschaft ve» langte für die Grundneigungen des Schülers, auf die er vielmehr nur dalni bestimmenden Einfluß gewinnen kann, wenn er von vorn herein einen gewissen Compromiß mit ihnen eingeht. Beim Volksinstinktc, der an conservativer Zähigkeit dem Kindesgemüthe nichts nachgiebt, lonunt noch hinzu, daß er sich der stetigen Einwirkung durch die Wissenschaft entzieht. Wie zufällig ist oft die Art der Uebermittelung wissenschaftlicher Resultate an das Volk, wie sehr ist auch sie wieder den Launen der primitiven Neigung unterworfen, welche je nach dem Angesichte dessen, der lehrhaft vor sie tritt, hier sich öffnet, dort sich verschließt. In wie unzähligen Fällen ist auch das glänzendste Plaidoyer des Historikers dem Ohre des Volkes ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Es bedarf meist ganz unberechenbarer Mittel und günstiger Zufälle, wenn es den feinen und verborgenen Fasern der Aneignung zugänglich werden soll, die das Herz des Volkes umgeben. Gewiß, einmal kommt alle Wahrheit zu ihrem Recht; aber die historische hal darin keinen Vorzug vor jeder andern, so sehr sie auch ihrem Inhalte nach des nähern Interesses gewiß scheint. Für das Volk braucht auch die Geschichtsauffassung der Beglaubigung durch die Zeit und manche Resultate historischer Forschung werden erst Eigenthum einer Nation, wenn ihre Urheber lange dahin sind und wenn die Wissenschaft als solche auf sie bereits einen ragenden Bau gegründet hat. Was nun die Würdigung des großen Kurfürsten betrifft, so darf nicht ge- läugnei werden, daß die Geschichtswissenschaft einige Mitschuld daran trägt, daß sein Bild nicht in der ganzen Hoheit und Größe vor der Seele

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/366>, abgerufen am 22.07.2024.