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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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sicher zu stellen, hat seine Philosophie im Gegentheil dazu dienen müssen, den
Glauben an die Haltbarkeit der unserm Zeitalter so erfreulichen Umgestaltungen
zu erschüttern. Die Verbindung des überlieferten Königthums mit der parla¬
mentarischen Regierung und die Ministerverantwortlichtcit sind fast als chimä¬
rische Bildungen ohne innere Logik gekennzeichnet worden. Das Princip der
Erblichkeit der Fürstengewalt und die Annahme eines gewissen eignen nicht ab¬
geleiteten Rechts zur Herrschaft haben sich gefallen lassen müssen, unter die
Ueberbleibsel und Ruinen des theologisch patriarchalischen Regime gerechnet zu
werden. Freilich ist es ganz richtig, von verschiedenen Principien zu reden,
die an den vorhandenen Gebilden ihren Antheil haben. Darf man aber des¬
halb jede Mischbildung auch für eine Mißbildung erklären? Ist nicht der Gang
der Geschichte in allen Richtungen Zeuge, daß sich die neuen Principien stets
mit den Konsequenzen alter "vollendeter Thatsachen" abzufinden haben? Oder
ist denn überhaupt die Doppelheit der Antriebe, welche Comte in der Beschaffen¬
heit der gegenwärtigen Versassuugögebildc kenntlich macht, ganz ohne über¬
greifende Einheit? An dieser letzteren Frage scheitern die Unrichtigkeiten der
politischen Kritik und des ganzen Systems. Comte hat mit dem Vorwurf der
Chimärenhaftigkeit nur die ihn umgebende Staatsordnung, aber nicht den echten
Constitutionalismus selbst getroffen. Er hat die falschen Auslegungen einer
schwankenden und zweideutigen Praxis und die theoretischen Entstellungen einer
unaufrichtigen, im Dienste jener Praxis verdorbenen Doctrin, aber nicht die
einfachen Vorstellungen des wahren Sachverhalts widerlegt. Sobald man
sich hütet, eine doppelte Ncchtsertigungsart des Bestehenden oder Angestrebten
geben zu wollen, wird man auch den Bereich der comteschen Kritik gar nicht
berühren. Die Lehre vom Gleichgewicht der Gewalten wird dann ebenso sicher
sein, wie diejenige von der Nothwendigkeit eines dcccntraiisircnden Gegen¬
gewichts. Nun ist der Gegensatz von Centralisation und Decentralisation in
wirtschaftlicher wie in politischer Beziehung heute so wenig anfechtbar, daß es
der feindseligsten Kritik schwer fallen soll, in ihm einen Widerspruch nachzuweisen.
Mit der bekannten Vorstellung vom Gleichgewicht der Staatsgewalten hat eS
keine andere Bewandtniß; die Zusammenwirkung relativ selbständiger Mächte
und die gegenseitige Beschränkung der Bestrebungen sind ganz einfache Mittel,
dem Gesammtergebnih eine mittlere Richtung zu gewährleisten. Warum soll
also nicht auch die Staatsgewalt, um hier ein mechanisches Gleichnis; zu
gebrauchen, eine Mittelkraft zu mehren Seitcnkräften sein? Der speculative
Mechaniker Comte hätte diesen Punkt nicht vergessen dürfen und hätte die
Schärfe seiner Kritik nur gegen diejenigen Verfassungsgcstaltungen lehren sollen,
in denen durch den Antagonismus und die Reibung allzu viel Kraft verloren
geht. Statt dessen hat er in der Theilung der Gewalten nur eine Lähmung
erblickt und überall einen gehörigen Schwerpunkt vermißt. Man kann zugeben,


sicher zu stellen, hat seine Philosophie im Gegentheil dazu dienen müssen, den
Glauben an die Haltbarkeit der unserm Zeitalter so erfreulichen Umgestaltungen
zu erschüttern. Die Verbindung des überlieferten Königthums mit der parla¬
mentarischen Regierung und die Ministerverantwortlichtcit sind fast als chimä¬
rische Bildungen ohne innere Logik gekennzeichnet worden. Das Princip der
Erblichkeit der Fürstengewalt und die Annahme eines gewissen eignen nicht ab¬
geleiteten Rechts zur Herrschaft haben sich gefallen lassen müssen, unter die
Ueberbleibsel und Ruinen des theologisch patriarchalischen Regime gerechnet zu
werden. Freilich ist es ganz richtig, von verschiedenen Principien zu reden,
die an den vorhandenen Gebilden ihren Antheil haben. Darf man aber des¬
halb jede Mischbildung auch für eine Mißbildung erklären? Ist nicht der Gang
der Geschichte in allen Richtungen Zeuge, daß sich die neuen Principien stets
mit den Konsequenzen alter „vollendeter Thatsachen" abzufinden haben? Oder
ist denn überhaupt die Doppelheit der Antriebe, welche Comte in der Beschaffen¬
heit der gegenwärtigen Versassuugögebildc kenntlich macht, ganz ohne über¬
greifende Einheit? An dieser letzteren Frage scheitern die Unrichtigkeiten der
politischen Kritik und des ganzen Systems. Comte hat mit dem Vorwurf der
Chimärenhaftigkeit nur die ihn umgebende Staatsordnung, aber nicht den echten
Constitutionalismus selbst getroffen. Er hat die falschen Auslegungen einer
schwankenden und zweideutigen Praxis und die theoretischen Entstellungen einer
unaufrichtigen, im Dienste jener Praxis verdorbenen Doctrin, aber nicht die
einfachen Vorstellungen des wahren Sachverhalts widerlegt. Sobald man
sich hütet, eine doppelte Ncchtsertigungsart des Bestehenden oder Angestrebten
geben zu wollen, wird man auch den Bereich der comteschen Kritik gar nicht
berühren. Die Lehre vom Gleichgewicht der Gewalten wird dann ebenso sicher
sein, wie diejenige von der Nothwendigkeit eines dcccntraiisircnden Gegen¬
gewichts. Nun ist der Gegensatz von Centralisation und Decentralisation in
wirtschaftlicher wie in politischer Beziehung heute so wenig anfechtbar, daß es
der feindseligsten Kritik schwer fallen soll, in ihm einen Widerspruch nachzuweisen.
Mit der bekannten Vorstellung vom Gleichgewicht der Staatsgewalten hat eS
keine andere Bewandtniß; die Zusammenwirkung relativ selbständiger Mächte
und die gegenseitige Beschränkung der Bestrebungen sind ganz einfache Mittel,
dem Gesammtergebnih eine mittlere Richtung zu gewährleisten. Warum soll
also nicht auch die Staatsgewalt, um hier ein mechanisches Gleichnis; zu
gebrauchen, eine Mittelkraft zu mehren Seitcnkräften sein? Der speculative
Mechaniker Comte hätte diesen Punkt nicht vergessen dürfen und hätte die
Schärfe seiner Kritik nur gegen diejenigen Verfassungsgcstaltungen lehren sollen,
in denen durch den Antagonismus und die Reibung allzu viel Kraft verloren
geht. Statt dessen hat er in der Theilung der Gewalten nur eine Lähmung
erblickt und überall einen gehörigen Schwerpunkt vermißt. Man kann zugeben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/274>, abgerufen am 22.07.2024.