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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Staates sind bei uns^ in viel weiterer Verbreitung vorhanden als in irgendeinem
anderen Lande, aber sie sind meist gebunden durch die ausschließliche und des-
halb alle egoistischen Triebe fördernde, den Gemeinsinn erstickende Beschäftigung
mit privaten Interessen. Hier liegt der Gesetzgebung ein weites Feld für die
fruchtbarste Thätigkeit offen, von dem man aber wünschen muß, daß es nicht
zu einem Kampfplatz einander feindlich gegenübertretendcr Tendenzen gemacht
werde.

Der Verfall des Eonstableramtcs ist nicht das einzige Symptom der sehr
bedenklichen Erscheinung, daß die natürlichen Organe des Sclfgovernments
nicht mehr den gesteigerten Anforderungen Genüge zu leisten vermögen*). Die
Neigung, die Lasten des öffentlichen Dienstes auf besoldete Beamte zu wäl¬
zen, muß vielmehr als eine allgemein um sich greifende bezeichnet werden. Dies
tritt besonders in der neueren Armengesetzgebung hervor, von deren Wichtigkeit
man sich leicht einen Begriff machen kann, wenn man erwägt, in wie hohem
Grade die Steucrkraft den Gemeinden durch die Armcnsteuer (xoor rath) in
Anspruch genommen ist. Von Alters her schließt sich die Verwaltung des Ar¬
menwesens an das Kirchspiel an**) und hat auch später, als sie sich von der
Kirche losgelöst hatte, ihren Sitz im Kirchspiel behalten. Die Armcnaufsehcr
waren Kirchspielsbeamte, die von dem Friedensrichter mit Berücksichtigung der
Vorschläge der Gemeinden ernannt wurden; die Friedensrichter vertheilten die
Armenstcuern auf die Gemeinden und führten die Aufsicht über das Ganze der
Verwaltung, so daß also die Entscheidung aller streitigen Fälle in letzter In¬
stanz den Reichsgerichten zukam. Je schneller indessen die Verarmung der un¬
teren Classen, eine der düsteren Schattenseiten des englischen Staatswesens, um
sich griff und je drückender daher die mächtig gesteigerte Armcnsteuer auf den
Gemeinden lastete, um so unzulänglicher wurde die aus einfacheren Verhält¬
nissen überkommene Verwaltung des Armenwesens. Nach längerem Experimen¬
tiren wurde endlich das Armengesetz von 1834 erlassen, durch welches die be¬
treffende Verwaltung nach völlig neuen Grundsätzen umgestaltet wurde.

An die Spitze der Gesammtverwaltung tritt ein königliches Armenamt mit
sehr weit gehenden Befugnissen. Der Sitz der Lvcalverwaltung wird aus den




") Wie viel man übrigens auch gegenwärtig noch der alten Gewohnheit persönlicher Thä¬
tigkeit im Staatsdienste zumuthen kann, beweist das Gesetz über die Spccinlconstablers, nach
dem in dringenden Fällen die Friedensrichter so viel Personell, "is ihnen beliebt, auf gewisse
Zeit zur Bewahrung des Friedens und der öffentlichen Sicherheit aufbieten und einschwören
können: es heißt dies nichts anderes, als in kritischen Momenten die Sorge für die Sicher"
heit des Staates der Gesammtheit der Bürger als Pflicht auferlegen. Das Gesetz gilt übrigens
für Schottland und Irland nicht.
") Daher gehört auch in den Städten, wie schon oben bemerkt, die Armcnverwaltung
nicht in den Vereich der städtischen Administration.

Staates sind bei uns^ in viel weiterer Verbreitung vorhanden als in irgendeinem
anderen Lande, aber sie sind meist gebunden durch die ausschließliche und des-
halb alle egoistischen Triebe fördernde, den Gemeinsinn erstickende Beschäftigung
mit privaten Interessen. Hier liegt der Gesetzgebung ein weites Feld für die
fruchtbarste Thätigkeit offen, von dem man aber wünschen muß, daß es nicht
zu einem Kampfplatz einander feindlich gegenübertretendcr Tendenzen gemacht
werde.

Der Verfall des Eonstableramtcs ist nicht das einzige Symptom der sehr
bedenklichen Erscheinung, daß die natürlichen Organe des Sclfgovernments
nicht mehr den gesteigerten Anforderungen Genüge zu leisten vermögen*). Die
Neigung, die Lasten des öffentlichen Dienstes auf besoldete Beamte zu wäl¬
zen, muß vielmehr als eine allgemein um sich greifende bezeichnet werden. Dies
tritt besonders in der neueren Armengesetzgebung hervor, von deren Wichtigkeit
man sich leicht einen Begriff machen kann, wenn man erwägt, in wie hohem
Grade die Steucrkraft den Gemeinden durch die Armcnsteuer (xoor rath) in
Anspruch genommen ist. Von Alters her schließt sich die Verwaltung des Ar¬
menwesens an das Kirchspiel an**) und hat auch später, als sie sich von der
Kirche losgelöst hatte, ihren Sitz im Kirchspiel behalten. Die Armcnaufsehcr
waren Kirchspielsbeamte, die von dem Friedensrichter mit Berücksichtigung der
Vorschläge der Gemeinden ernannt wurden; die Friedensrichter vertheilten die
Armenstcuern auf die Gemeinden und führten die Aufsicht über das Ganze der
Verwaltung, so daß also die Entscheidung aller streitigen Fälle in letzter In¬
stanz den Reichsgerichten zukam. Je schneller indessen die Verarmung der un¬
teren Classen, eine der düsteren Schattenseiten des englischen Staatswesens, um
sich griff und je drückender daher die mächtig gesteigerte Armcnsteuer auf den
Gemeinden lastete, um so unzulänglicher wurde die aus einfacheren Verhält¬
nissen überkommene Verwaltung des Armenwesens. Nach längerem Experimen¬
tiren wurde endlich das Armengesetz von 1834 erlassen, durch welches die be¬
treffende Verwaltung nach völlig neuen Grundsätzen umgestaltet wurde.

An die Spitze der Gesammtverwaltung tritt ein königliches Armenamt mit
sehr weit gehenden Befugnissen. Der Sitz der Lvcalverwaltung wird aus den




") Wie viel man übrigens auch gegenwärtig noch der alten Gewohnheit persönlicher Thä¬
tigkeit im Staatsdienste zumuthen kann, beweist das Gesetz über die Spccinlconstablers, nach
dem in dringenden Fällen die Friedensrichter so viel Personell, «is ihnen beliebt, auf gewisse
Zeit zur Bewahrung des Friedens und der öffentlichen Sicherheit aufbieten und einschwören
können: es heißt dies nichts anderes, als in kritischen Momenten die Sorge für die Sicher«
heit des Staates der Gesammtheit der Bürger als Pflicht auferlegen. Das Gesetz gilt übrigens
für Schottland und Irland nicht.
") Daher gehört auch in den Städten, wie schon oben bemerkt, die Armcnverwaltung
nicht in den Vereich der städtischen Administration.
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[0186] Staates sind bei uns^ in viel weiterer Verbreitung vorhanden als in irgendeinem anderen Lande, aber sie sind meist gebunden durch die ausschließliche und des- halb alle egoistischen Triebe fördernde, den Gemeinsinn erstickende Beschäftigung mit privaten Interessen. Hier liegt der Gesetzgebung ein weites Feld für die fruchtbarste Thätigkeit offen, von dem man aber wünschen muß, daß es nicht zu einem Kampfplatz einander feindlich gegenübertretendcr Tendenzen gemacht werde. Der Verfall des Eonstableramtcs ist nicht das einzige Symptom der sehr bedenklichen Erscheinung, daß die natürlichen Organe des Sclfgovernments nicht mehr den gesteigerten Anforderungen Genüge zu leisten vermögen*). Die Neigung, die Lasten des öffentlichen Dienstes auf besoldete Beamte zu wäl¬ zen, muß vielmehr als eine allgemein um sich greifende bezeichnet werden. Dies tritt besonders in der neueren Armengesetzgebung hervor, von deren Wichtigkeit man sich leicht einen Begriff machen kann, wenn man erwägt, in wie hohem Grade die Steucrkraft den Gemeinden durch die Armcnsteuer (xoor rath) in Anspruch genommen ist. Von Alters her schließt sich die Verwaltung des Ar¬ menwesens an das Kirchspiel an**) und hat auch später, als sie sich von der Kirche losgelöst hatte, ihren Sitz im Kirchspiel behalten. Die Armcnaufsehcr waren Kirchspielsbeamte, die von dem Friedensrichter mit Berücksichtigung der Vorschläge der Gemeinden ernannt wurden; die Friedensrichter vertheilten die Armenstcuern auf die Gemeinden und führten die Aufsicht über das Ganze der Verwaltung, so daß also die Entscheidung aller streitigen Fälle in letzter In¬ stanz den Reichsgerichten zukam. Je schneller indessen die Verarmung der un¬ teren Classen, eine der düsteren Schattenseiten des englischen Staatswesens, um sich griff und je drückender daher die mächtig gesteigerte Armcnsteuer auf den Gemeinden lastete, um so unzulänglicher wurde die aus einfacheren Verhält¬ nissen überkommene Verwaltung des Armenwesens. Nach längerem Experimen¬ tiren wurde endlich das Armengesetz von 1834 erlassen, durch welches die be¬ treffende Verwaltung nach völlig neuen Grundsätzen umgestaltet wurde. An die Spitze der Gesammtverwaltung tritt ein königliches Armenamt mit sehr weit gehenden Befugnissen. Der Sitz der Lvcalverwaltung wird aus den ") Wie viel man übrigens auch gegenwärtig noch der alten Gewohnheit persönlicher Thä¬ tigkeit im Staatsdienste zumuthen kann, beweist das Gesetz über die Spccinlconstablers, nach dem in dringenden Fällen die Friedensrichter so viel Personell, «is ihnen beliebt, auf gewisse Zeit zur Bewahrung des Friedens und der öffentlichen Sicherheit aufbieten und einschwören können: es heißt dies nichts anderes, als in kritischen Momenten die Sorge für die Sicher« heit des Staates der Gesammtheit der Bürger als Pflicht auferlegen. Das Gesetz gilt übrigens für Schottland und Irland nicht. ") Daher gehört auch in den Städten, wie schon oben bemerkt, die Armcnverwaltung nicht in den Vereich der städtischen Administration.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/186>, abgerufen am 03.07.2024.