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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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lamentsherrschaft, wurden die Angriffe auf die Selbständigfeit der Städte nur noch
gesteigert. In willkürlichster Weise wurden die Verfassungen der einzelnen Städte
ergänzt und verändert, so daß dei Erlas; der neuen Städteordnung außer 1497
Charten noch 700 Localgesetze vorhanden waren. Und alle diese Veränderungen
waren tendenziös nur darauf berechnet, den Einfluß der Aristokratie auf die
Wahlen aufrecht zu erhallen.

Am Schluß des achtzehnten Jahrhunderts, sagt Gneist, war in dem eng¬
lischen Städtewesen kein staatsrechtlicher Grundsatz mehr zu erkennen. Um nur
einige von den Monstrositäten zu erwähnen, welche die Untersuchungscommission
über die städtischen Verhältnisse im Jahre 1833 zu Tage gefördert hatte, sei
hier bemerkt, daß z. B. in Buckingham der Mayor das ganze städtische
Einkommen ohne Rechnungslegung bezog. Gemeinderath und Altermann wer¬
den meist durch Kooptation ernannt. Oft kam es vor, daß die Corporation
der Bürgerschaft sich nicht einmal um Straßenpflaster und Straßenbeleuchtung
zu kümmern hatte, so daß durch Localacten Abhilfe geschafft werden mußte. Viele
Städte traten förmlich'in das Patronat eines reichen Grundherrn, dem man
das Ehrenamt eines Ili^Ir Ltevarck (in 51 Städten) verlieh und der in man¬
chen armen Orten die sämmtlichen Municipalausgaben bezahlte.

Eine Reform dieser Mißstände war endlich unvermeidlich geworden und zwar
nach zwei Richtungen hin, einmal nach Seiten des Wahlrechts und dann nach
Seiten der innern städtischen Verfassungen. Die Regelung des Wahlrechtes er¬
folgte durch die Reformbill, welche S6 verfallenen Wahlflccken, in denen die
Wahlen ganz zur Verfügung einiger adligen Familien standen, das besondere
Wahlrecht entzog, 54 auf einen Abgeordneten beschränkte, andern zum Theil
sehr großen und reichen Orten, die bis dahin keine besondern Wahlbezirke ge¬
bildet hatten, zum Range von Wahlflecken (?mMmvnwi'7 Loi'ouFNs) erhob
und endlich den durch die Jncorporationscharten übermäßig beschränkten Kreis
der Wähler erweiterte.

Dies alles geschah in durchgreifender, den Verhältnissen entsprechender
Weise. Die Zahl der Wähler wurde ungefähr verdoppelt, der ungebührliche
Einfluß, den die großen Familien auf die Wahlen ausübten, auf ein beschei¬
deneres Maß zurückgeführt.

Schwieriger noch als die Reform des Wahlsystems war die Beseitigung
der zahllosen Mißbildungen und Mißbräuche, welche das Städtewesen, insbe¬
sondere die städtischen Verfassungen, verunstaltet hatten. Die eigenthümliche
Schwierigkeit einer einheitlichen Gesetzgebung lag besonders darin, daß die Un¬
terschiede zwischen Stadt und Land keineswegs so fest fixirt als in Deutschland
sind, und daß die Städte weder im Einzelnen noch in ihrer Gesammtheit jemals
die politische Selbständigkeit gehabt haben, die einer Körperschaft im Staate
nur durch das starke Hervortreten eines Gegensatzes zu andern Bildungen der-


lamentsherrschaft, wurden die Angriffe auf die Selbständigfeit der Städte nur noch
gesteigert. In willkürlichster Weise wurden die Verfassungen der einzelnen Städte
ergänzt und verändert, so daß dei Erlas; der neuen Städteordnung außer 1497
Charten noch 700 Localgesetze vorhanden waren. Und alle diese Veränderungen
waren tendenziös nur darauf berechnet, den Einfluß der Aristokratie auf die
Wahlen aufrecht zu erhallen.

Am Schluß des achtzehnten Jahrhunderts, sagt Gneist, war in dem eng¬
lischen Städtewesen kein staatsrechtlicher Grundsatz mehr zu erkennen. Um nur
einige von den Monstrositäten zu erwähnen, welche die Untersuchungscommission
über die städtischen Verhältnisse im Jahre 1833 zu Tage gefördert hatte, sei
hier bemerkt, daß z. B. in Buckingham der Mayor das ganze städtische
Einkommen ohne Rechnungslegung bezog. Gemeinderath und Altermann wer¬
den meist durch Kooptation ernannt. Oft kam es vor, daß die Corporation
der Bürgerschaft sich nicht einmal um Straßenpflaster und Straßenbeleuchtung
zu kümmern hatte, so daß durch Localacten Abhilfe geschafft werden mußte. Viele
Städte traten förmlich'in das Patronat eines reichen Grundherrn, dem man
das Ehrenamt eines Ili^Ir Ltevarck (in 51 Städten) verlieh und der in man¬
chen armen Orten die sämmtlichen Municipalausgaben bezahlte.

Eine Reform dieser Mißstände war endlich unvermeidlich geworden und zwar
nach zwei Richtungen hin, einmal nach Seiten des Wahlrechts und dann nach
Seiten der innern städtischen Verfassungen. Die Regelung des Wahlrechtes er¬
folgte durch die Reformbill, welche S6 verfallenen Wahlflccken, in denen die
Wahlen ganz zur Verfügung einiger adligen Familien standen, das besondere
Wahlrecht entzog, 54 auf einen Abgeordneten beschränkte, andern zum Theil
sehr großen und reichen Orten, die bis dahin keine besondern Wahlbezirke ge¬
bildet hatten, zum Range von Wahlflecken (?mMmvnwi'7 Loi'ouFNs) erhob
und endlich den durch die Jncorporationscharten übermäßig beschränkten Kreis
der Wähler erweiterte.

Dies alles geschah in durchgreifender, den Verhältnissen entsprechender
Weise. Die Zahl der Wähler wurde ungefähr verdoppelt, der ungebührliche
Einfluß, den die großen Familien auf die Wahlen ausübten, auf ein beschei¬
deneres Maß zurückgeführt.

Schwieriger noch als die Reform des Wahlsystems war die Beseitigung
der zahllosen Mißbildungen und Mißbräuche, welche das Städtewesen, insbe¬
sondere die städtischen Verfassungen, verunstaltet hatten. Die eigenthümliche
Schwierigkeit einer einheitlichen Gesetzgebung lag besonders darin, daß die Un¬
terschiede zwischen Stadt und Land keineswegs so fest fixirt als in Deutschland
sind, und daß die Städte weder im Einzelnen noch in ihrer Gesammtheit jemals
die politische Selbständigkeit gehabt haben, die einer Körperschaft im Staate
nur durch das starke Hervortreten eines Gegensatzes zu andern Bildungen der-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/180>, abgerufen am 03.07.2024.