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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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es wird aber niemand, dem es um eine klare Auffassung des englischen Staats¬
wesens zu thun ist, diese Anstrengung scheuen dürfen. Erleichtert wird das
Studium durch die Verweisung der Detailfragen und der weiteren Ausführung
der im Texte gegebenen Grundzüge in die inhaltreichen Anmerkungen, die sich
jedem Capitel anschließen. Die Wahl dieser Darstellungsweise wird vollkommen
gerechtfertigt durch die Nothwendigkeit einer möglichst übersichtlichen Zusammen¬
fassung der Hauptergebnisse der Forschung. Uebrigens wollen wir noch be¬
merken, daß ein Verständniß des Textes ohne ein sorgfältiges Studium
der Anmerkungen nicht erzielt werden kann. Sie enthalten die allerwich-
tigsten und anziehendsten Erläuterungen und Entwickelungen,, so daß jedem
Leser zu rathen ist, sie nicht nur gelegentlich zu Hilfe zu nehmen, sondern
von vornherein ihnen ganz dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden, wie dem
Texte.

Was den Gang der Untersuchung betrifft, so verfolgt die erste Abtheilung
des Werkes die geschichtliche Entwickelung der englischen Kreis- und Gemeinde¬
verfassung von der angelsächsischen Periode an. An diese Abtheilung schließt
sich die ausführliche Darstellung der gegenwärtigen Communalverfassung in
England und Wales. Die dritte Abtheilung handelt von ^den anwendbaren
Grundsätzen des Selfgovernments und zwar mit besonderer Rücksicht auf
Deutschland, wobei natürlich die Vergleichung mit den preußischen Zuständen
in den Vordergrund tritt. Die in diesem letzten Abschnitt dargelegten Ansichten
werden ohne Zweifel vielfachen Widerspruch von den verschiedensten Standpunkten
aus finden.

Gneist nimmt unter den preußischen Staatsmännern eine eigenthümliche,
fast möchte man sagen isolirte Stellung ein. Seine politischen Theorien weichen
in wesentlichen Punkten von denen aller gegenwärtig bestehenden Parteien ab,
ein Verhältniß, das durch seine lebhafte oppositionelle Theilnahme an den poli¬
tischen Kämpfen der letzten Jahre wohl verdunkelt, aber doch nicht völlig ver¬
deckt wird. Er ist weit davon entfernt, englische Institutionen ohne weiteres
auf deutschen Boden verpflanzen zu wollen: wohl aber ergeben sich ihm aus der
Betrachtung der englischen Verfassung gewisse Grundsätze, für die er eine un¬
bedingte Geltung beansprucht. Seine politischen Maximen entsprechen den
großen Normen politischer Gestaltung, die er in der Gesammtheit des öffent¬
lichen Lebens in England ausgeprägt findet. Er ist ein sehr entschiedener Geg¬
ner aller feudalen Privilegien; andrerseits aber haben auch alle Freiheitsbestre-
bungen, die auf directe Verwirklichung gewisser aus einem philosophisch-poli¬
tischen Systeme abgeleiteter Grundrechte gerichtet sind, in seinen Augen einen
sehr geringen Werth. Ihm ist das politische Recht das Correlat der erfüllten
Politischen Pflicht. Die Freiheit besteht ihm nicht darin, daß die Anforderungen
des Staates an den Einzelnen auf ein möglichst geringes Maß beschränkt wer-


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es wird aber niemand, dem es um eine klare Auffassung des englischen Staats¬
wesens zu thun ist, diese Anstrengung scheuen dürfen. Erleichtert wird das
Studium durch die Verweisung der Detailfragen und der weiteren Ausführung
der im Texte gegebenen Grundzüge in die inhaltreichen Anmerkungen, die sich
jedem Capitel anschließen. Die Wahl dieser Darstellungsweise wird vollkommen
gerechtfertigt durch die Nothwendigkeit einer möglichst übersichtlichen Zusammen¬
fassung der Hauptergebnisse der Forschung. Uebrigens wollen wir noch be¬
merken, daß ein Verständniß des Textes ohne ein sorgfältiges Studium
der Anmerkungen nicht erzielt werden kann. Sie enthalten die allerwich-
tigsten und anziehendsten Erläuterungen und Entwickelungen,, so daß jedem
Leser zu rathen ist, sie nicht nur gelegentlich zu Hilfe zu nehmen, sondern
von vornherein ihnen ganz dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden, wie dem
Texte.

Was den Gang der Untersuchung betrifft, so verfolgt die erste Abtheilung
des Werkes die geschichtliche Entwickelung der englischen Kreis- und Gemeinde¬
verfassung von der angelsächsischen Periode an. An diese Abtheilung schließt
sich die ausführliche Darstellung der gegenwärtigen Communalverfassung in
England und Wales. Die dritte Abtheilung handelt von ^den anwendbaren
Grundsätzen des Selfgovernments und zwar mit besonderer Rücksicht auf
Deutschland, wobei natürlich die Vergleichung mit den preußischen Zuständen
in den Vordergrund tritt. Die in diesem letzten Abschnitt dargelegten Ansichten
werden ohne Zweifel vielfachen Widerspruch von den verschiedensten Standpunkten
aus finden.

Gneist nimmt unter den preußischen Staatsmännern eine eigenthümliche,
fast möchte man sagen isolirte Stellung ein. Seine politischen Theorien weichen
in wesentlichen Punkten von denen aller gegenwärtig bestehenden Parteien ab,
ein Verhältniß, das durch seine lebhafte oppositionelle Theilnahme an den poli¬
tischen Kämpfen der letzten Jahre wohl verdunkelt, aber doch nicht völlig ver¬
deckt wird. Er ist weit davon entfernt, englische Institutionen ohne weiteres
auf deutschen Boden verpflanzen zu wollen: wohl aber ergeben sich ihm aus der
Betrachtung der englischen Verfassung gewisse Grundsätze, für die er eine un¬
bedingte Geltung beansprucht. Seine politischen Maximen entsprechen den
großen Normen politischer Gestaltung, die er in der Gesammtheit des öffent¬
lichen Lebens in England ausgeprägt findet. Er ist ein sehr entschiedener Geg¬
ner aller feudalen Privilegien; andrerseits aber haben auch alle Freiheitsbestre-
bungen, die auf directe Verwirklichung gewisser aus einem philosophisch-poli¬
tischen Systeme abgeleiteter Grundrechte gerichtet sind, in seinen Augen einen
sehr geringen Werth. Ihm ist das politische Recht das Correlat der erfüllten
Politischen Pflicht. Die Freiheit besteht ihm nicht darin, daß die Anforderungen
des Staates an den Einzelnen auf ein möglichst geringes Maß beschränkt wer-


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[0127] es wird aber niemand, dem es um eine klare Auffassung des englischen Staats¬ wesens zu thun ist, diese Anstrengung scheuen dürfen. Erleichtert wird das Studium durch die Verweisung der Detailfragen und der weiteren Ausführung der im Texte gegebenen Grundzüge in die inhaltreichen Anmerkungen, die sich jedem Capitel anschließen. Die Wahl dieser Darstellungsweise wird vollkommen gerechtfertigt durch die Nothwendigkeit einer möglichst übersichtlichen Zusammen¬ fassung der Hauptergebnisse der Forschung. Uebrigens wollen wir noch be¬ merken, daß ein Verständniß des Textes ohne ein sorgfältiges Studium der Anmerkungen nicht erzielt werden kann. Sie enthalten die allerwich- tigsten und anziehendsten Erläuterungen und Entwickelungen,, so daß jedem Leser zu rathen ist, sie nicht nur gelegentlich zu Hilfe zu nehmen, sondern von vornherein ihnen ganz dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden, wie dem Texte. Was den Gang der Untersuchung betrifft, so verfolgt die erste Abtheilung des Werkes die geschichtliche Entwickelung der englischen Kreis- und Gemeinde¬ verfassung von der angelsächsischen Periode an. An diese Abtheilung schließt sich die ausführliche Darstellung der gegenwärtigen Communalverfassung in England und Wales. Die dritte Abtheilung handelt von ^den anwendbaren Grundsätzen des Selfgovernments und zwar mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, wobei natürlich die Vergleichung mit den preußischen Zuständen in den Vordergrund tritt. Die in diesem letzten Abschnitt dargelegten Ansichten werden ohne Zweifel vielfachen Widerspruch von den verschiedensten Standpunkten aus finden. Gneist nimmt unter den preußischen Staatsmännern eine eigenthümliche, fast möchte man sagen isolirte Stellung ein. Seine politischen Theorien weichen in wesentlichen Punkten von denen aller gegenwärtig bestehenden Parteien ab, ein Verhältniß, das durch seine lebhafte oppositionelle Theilnahme an den poli¬ tischen Kämpfen der letzten Jahre wohl verdunkelt, aber doch nicht völlig ver¬ deckt wird. Er ist weit davon entfernt, englische Institutionen ohne weiteres auf deutschen Boden verpflanzen zu wollen: wohl aber ergeben sich ihm aus der Betrachtung der englischen Verfassung gewisse Grundsätze, für die er eine un¬ bedingte Geltung beansprucht. Seine politischen Maximen entsprechen den großen Normen politischer Gestaltung, die er in der Gesammtheit des öffent¬ lichen Lebens in England ausgeprägt findet. Er ist ein sehr entschiedener Geg¬ ner aller feudalen Privilegien; andrerseits aber haben auch alle Freiheitsbestre- bungen, die auf directe Verwirklichung gewisser aus einem philosophisch-poli¬ tischen Systeme abgeleiteter Grundrechte gerichtet sind, in seinen Augen einen sehr geringen Werth. Ihm ist das politische Recht das Correlat der erfüllten Politischen Pflicht. Die Freiheit besteht ihm nicht darin, daß die Anforderungen des Staates an den Einzelnen auf ein möglichst geringes Maß beschränkt wer- 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/127>, abgerufen am 03.07.2024.