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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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einende die mangelnde Erfahrung in dieser Beziehung durch das Studium der
englischen Verhältnisse zu ergänzen sucht. Aber auch mit diesem an sich durch¬
aus richtigen Bestreben ist zunächst noch nicht viel gewonnen, da die concreten
Zustände ebenso mannigfache Auffassungen sich gefallen lassen müssen, als die
abstracten Begriffe, die man an dem Maßstab geschichtlich gewordener Verhält¬
nisse und Thatsachen messen und prüfen will. So kommt es, daß die ver¬
schiedensten politischen Systeme ihre Ansprüche durch die Berufung auf England
zu unterstützen suchen. Der Eine möchte das Herrenhaus, der Andere das
Abgeordnetenhaus nach dem Vorbilde Englands umgestaltet sehen. Die Reaction
verschmäht es so wenig wie der Liberalismus und die Demokratie, ihr Rüst¬
zeug, wenn es ihr gerade so paßt, aus dem wunderbaren Lande zu holen, in
welchem die reichste, mächtigste und stolzeste Aristokratie Europas zugleich mit
der größten bürgerlichen Freiheit, der festesten Herrschaft des Gesetzes ihre star¬
ken Wurzeln geschlagen hat. Man muß zugestehen, daß fast in allen verschie¬
denen Auffassungen der englischen Zustände ein gewisses, wenn auch oft nur
sehr geringes Maß von Wahrheit enthalten ist. Dies geringe Maß von Wahr¬
heit wird aber meist völlig werthlos durch die Fülle von Irrthümern, von
denen es verdunkelt ist. Man greift gewisse augenfällige Thatsachen auf. reißt,
was nur als Glied eines kunstvollen, durch die mühsame Arbeit vieler Jahr¬
hunderte geordneten Organismus verstanden werden kann, aus seinem Zusammen¬
hange los, und gewinnt ans diesem Wege im günstigsten Falle ein einseitiges
und unvollständiges, oft aber ein gänzlich verzerrtes und unrichtiges Bild
von den Zuständen, an denen man die heimischen Staatseinrichtungen messen
und prüfen will.

Verhältnißmäßig leicht ist es, sich eine Vorstellung von dem Getriebe und
den gegenseitigen Beziehungen der großen Staatskörper Englands, deren Ver¬
handlungen sich vor den Augen der Welt abwickeln, zu bilden. Aber diese
Vorstellung wird oberflächlich bleiben, so lange die Kenntniß des Zusammen¬
hanges fehlt, in dem dieselben mit dem Gemeindeleben, der Grafschaftsverfassung,
der Localverwaltung stehen. Diese Kenntniß uns vollständig zugänglich ge¬
macht zu haben, ist das nicht hoch genug anzuschlagende Verdienst des berühmten
Werkes von Gneist über die englische Verfassung, dessen zweiter Haupttheil, die
Communalverfassung und das Selfgovernment behandelnd, jetzt in zweiter völ¬
lig umgearbeiteter Auflage vorliegt. Mit einer vollkommenen Kenntniß des
massenhaften Materials bis in seine kleinsten Einzelheiten verbindet sich in dem
Verfasser ein umfassender Ueberblick, der ihn befähigt, den leitenden Faden in
dem Labyrinthe von Gewohnheitsrechten und Statuten aufzusuchen und fest¬
zuhalten und die Fülle des Stoffes zu einem großen einheitlichen Bilde zu ge¬
stalten. Es erfordert eine nicht geringe Sammlung und Aufmerksamkeit, den
Versasser durch seine keineswegs populär gehaltene Darstellung zu begleiten:


einende die mangelnde Erfahrung in dieser Beziehung durch das Studium der
englischen Verhältnisse zu ergänzen sucht. Aber auch mit diesem an sich durch¬
aus richtigen Bestreben ist zunächst noch nicht viel gewonnen, da die concreten
Zustände ebenso mannigfache Auffassungen sich gefallen lassen müssen, als die
abstracten Begriffe, die man an dem Maßstab geschichtlich gewordener Verhält¬
nisse und Thatsachen messen und prüfen will. So kommt es, daß die ver¬
schiedensten politischen Systeme ihre Ansprüche durch die Berufung auf England
zu unterstützen suchen. Der Eine möchte das Herrenhaus, der Andere das
Abgeordnetenhaus nach dem Vorbilde Englands umgestaltet sehen. Die Reaction
verschmäht es so wenig wie der Liberalismus und die Demokratie, ihr Rüst¬
zeug, wenn es ihr gerade so paßt, aus dem wunderbaren Lande zu holen, in
welchem die reichste, mächtigste und stolzeste Aristokratie Europas zugleich mit
der größten bürgerlichen Freiheit, der festesten Herrschaft des Gesetzes ihre star¬
ken Wurzeln geschlagen hat. Man muß zugestehen, daß fast in allen verschie¬
denen Auffassungen der englischen Zustände ein gewisses, wenn auch oft nur
sehr geringes Maß von Wahrheit enthalten ist. Dies geringe Maß von Wahr¬
heit wird aber meist völlig werthlos durch die Fülle von Irrthümern, von
denen es verdunkelt ist. Man greift gewisse augenfällige Thatsachen auf. reißt,
was nur als Glied eines kunstvollen, durch die mühsame Arbeit vieler Jahr¬
hunderte geordneten Organismus verstanden werden kann, aus seinem Zusammen¬
hange los, und gewinnt ans diesem Wege im günstigsten Falle ein einseitiges
und unvollständiges, oft aber ein gänzlich verzerrtes und unrichtiges Bild
von den Zuständen, an denen man die heimischen Staatseinrichtungen messen
und prüfen will.

Verhältnißmäßig leicht ist es, sich eine Vorstellung von dem Getriebe und
den gegenseitigen Beziehungen der großen Staatskörper Englands, deren Ver¬
handlungen sich vor den Augen der Welt abwickeln, zu bilden. Aber diese
Vorstellung wird oberflächlich bleiben, so lange die Kenntniß des Zusammen¬
hanges fehlt, in dem dieselben mit dem Gemeindeleben, der Grafschaftsverfassung,
der Localverwaltung stehen. Diese Kenntniß uns vollständig zugänglich ge¬
macht zu haben, ist das nicht hoch genug anzuschlagende Verdienst des berühmten
Werkes von Gneist über die englische Verfassung, dessen zweiter Haupttheil, die
Communalverfassung und das Selfgovernment behandelnd, jetzt in zweiter völ¬
lig umgearbeiteter Auflage vorliegt. Mit einer vollkommenen Kenntniß des
massenhaften Materials bis in seine kleinsten Einzelheiten verbindet sich in dem
Verfasser ein umfassender Ueberblick, der ihn befähigt, den leitenden Faden in
dem Labyrinthe von Gewohnheitsrechten und Statuten aufzusuchen und fest¬
zuhalten und die Fülle des Stoffes zu einem großen einheitlichen Bilde zu ge¬
stalten. Es erfordert eine nicht geringe Sammlung und Aufmerksamkeit, den
Versasser durch seine keineswegs populär gehaltene Darstellung zu begleiten:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/126>, abgerufen am 01.10.2024.