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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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des Ministeriums und gestützt auf die gewaltige Macht der öffentlichen Meinung.
Die Coalition der Oppositionspartei, die sich übrigens erst allmählig vollzog,
ist für das Geschick der verfassungsmäßigen Freiheit in Frankreich verhängniß-
voll geworden. War aber das Prunken mit einer Politik des Widerstandes
das geeignete Mittel, die Coalition zu verhindern und später zu sprengen?
Wohl hat Guizot Recht, wenn er in seinem Sinne die Politik des Widerstandes
keineswegs als Politik der Stabilität, keineswegs als Gegensatz zu einer Politik
des Fortschritts auffaßt. Als seine Aufgabe sah er es an, vor der Beweg¬
lichkeit der Gesetze und der politischen Hirngespinste die im Entstehen begriffene
Herrschaft der Freiheit zu schützen. Dies war der Zweck seines Widerstandes.
Dem gemäß trat er einer von Ducos beantragten Reform des Wahlgesetzes
entgegen, nicht als ob er principiell gegen eine Ausdehnung des Wahlrechts
gewesen wäre, sondern weil er für den Augenblick das Bedürfniß einer solchen
läugnete. Ob ein Zugeständnis; in dieser verhängnisvollen Frage das Schicksal
des Julitönigthums abgewandt, oder vielleicht im Gegentheil beschleunigt haben
würde, wer vermag das zu ermessen? So viel ist aber gewiß, daß der gefährliche
Gegensatz, der zwischen der öffentlichen Meinung und der dein Julikönigthum
ergebenen Majorität der Kammer bestand, eine theilweise Ausgleichung gesunden
haben würde, und ferner, daß der Augenblick zum Ergreifen kräftiger Nefvrm-
maßregcln insofern günstig war, als die nach den Zuckungen des verflossenen
Jahrzehnts und der Aufregung der abgewickelten äußern Krisis eingetretene Ruhe
und Abspannung einen Fortschritt innerhalb bestimmter Grenzen und nach einem
bestimmten Ziele möglich machte. Wohl war die Ruhe trügerisch, was Guizot
leinen Augenblick verkannt hat. Um so mehr aber war es geboten, eine der
Quellen des Unheils zu verstopfen und in einer freisinnigen Politik einen Ver¬
einigungspunkt für alle diejenigen Parteien zu bilden, die nicht ihre Zukunft
ausschließlich auf den Umsturz des Bestehenden richteten. Eine Bürgschaft für
das Gelingen des Versuches war allerdings bei der politischen Depravation
der Parteien und der Leichtigkeit eines revolutionären Handstreichs nicht vor¬
handen. Aber dennoch mußte der Versuch gemacht werden, da die eingeschlagene
Politik durchaus keine Aussicht hatte, eine Umstimmung der Gemüther hervor¬
zubringen, und mit jedem Schritt vorwärts sich nur tiefer in einen Abweg ver¬
strickte, aus dem eine Rückkehr nicht möglich war.

Die Starrheit der Negierung kam nur den Radicalen zu Gute. Sie e,ut>
fremdete der Regierung die gemäßigte Opposition immer mehr und machte sie zu
Werkzeugen der Demokratie; sie bewirkte serner, daß die radicale Presse in ihren
Angriffen gegen die Regierung, ja gegen die Monarchie einen Einfluß auch in
der gebildeten und besitzenden Classe der Bevölkerung gewann, der ihren innern
Werth weit überragte. Und was die Gewalt des Uebels noch steigerte, die
Negierung mußte den Angriffen mit gebundenen Händen zusehn. Grundsätzlich


des Ministeriums und gestützt auf die gewaltige Macht der öffentlichen Meinung.
Die Coalition der Oppositionspartei, die sich übrigens erst allmählig vollzog,
ist für das Geschick der verfassungsmäßigen Freiheit in Frankreich verhängniß-
voll geworden. War aber das Prunken mit einer Politik des Widerstandes
das geeignete Mittel, die Coalition zu verhindern und später zu sprengen?
Wohl hat Guizot Recht, wenn er in seinem Sinne die Politik des Widerstandes
keineswegs als Politik der Stabilität, keineswegs als Gegensatz zu einer Politik
des Fortschritts auffaßt. Als seine Aufgabe sah er es an, vor der Beweg¬
lichkeit der Gesetze und der politischen Hirngespinste die im Entstehen begriffene
Herrschaft der Freiheit zu schützen. Dies war der Zweck seines Widerstandes.
Dem gemäß trat er einer von Ducos beantragten Reform des Wahlgesetzes
entgegen, nicht als ob er principiell gegen eine Ausdehnung des Wahlrechts
gewesen wäre, sondern weil er für den Augenblick das Bedürfniß einer solchen
läugnete. Ob ein Zugeständnis; in dieser verhängnisvollen Frage das Schicksal
des Julitönigthums abgewandt, oder vielleicht im Gegentheil beschleunigt haben
würde, wer vermag das zu ermessen? So viel ist aber gewiß, daß der gefährliche
Gegensatz, der zwischen der öffentlichen Meinung und der dein Julikönigthum
ergebenen Majorität der Kammer bestand, eine theilweise Ausgleichung gesunden
haben würde, und ferner, daß der Augenblick zum Ergreifen kräftiger Nefvrm-
maßregcln insofern günstig war, als die nach den Zuckungen des verflossenen
Jahrzehnts und der Aufregung der abgewickelten äußern Krisis eingetretene Ruhe
und Abspannung einen Fortschritt innerhalb bestimmter Grenzen und nach einem
bestimmten Ziele möglich machte. Wohl war die Ruhe trügerisch, was Guizot
leinen Augenblick verkannt hat. Um so mehr aber war es geboten, eine der
Quellen des Unheils zu verstopfen und in einer freisinnigen Politik einen Ver¬
einigungspunkt für alle diejenigen Parteien zu bilden, die nicht ihre Zukunft
ausschließlich auf den Umsturz des Bestehenden richteten. Eine Bürgschaft für
das Gelingen des Versuches war allerdings bei der politischen Depravation
der Parteien und der Leichtigkeit eines revolutionären Handstreichs nicht vor¬
handen. Aber dennoch mußte der Versuch gemacht werden, da die eingeschlagene
Politik durchaus keine Aussicht hatte, eine Umstimmung der Gemüther hervor¬
zubringen, und mit jedem Schritt vorwärts sich nur tiefer in einen Abweg ver¬
strickte, aus dem eine Rückkehr nicht möglich war.

Die Starrheit der Negierung kam nur den Radicalen zu Gute. Sie e,ut>
fremdete der Regierung die gemäßigte Opposition immer mehr und machte sie zu
Werkzeugen der Demokratie; sie bewirkte serner, daß die radicale Presse in ihren
Angriffen gegen die Regierung, ja gegen die Monarchie einen Einfluß auch in
der gebildeten und besitzenden Classe der Bevölkerung gewann, der ihren innern
Werth weit überragte. Und was die Gewalt des Uebels noch steigerte, die
Negierung mußte den Angriffen mit gebundenen Händen zusehn. Grundsätzlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/84>, abgerufen am 28.09.2024.