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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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in den ältesten christlichen Apokalypsen, die wir noch besitzen, selbst diese Mo¬
difikation noch nicht anzutreffen.

Es sind uns nämlich noch ein paar altchristlicher Apokalypsen oder Offen¬
barungen dieser Art in unsrem Kanon erhalten, kostbare Ueberreste, allerdings
schon unter dem Eindruck der beginnenden Verfolgungen geschrieben, welche den
Glauben an die Wiederkunft Jesu aufs äußerste anspannen mußten, gleichwohl
die treuesten Zeugnisse für den Ideenkreis und die Stimmung der ältesten Chri¬
stengemeinde. Die eine kleinere und ohne Zweifel ältere dieser Apokalypsen
ist später seltsamerweise einer Rede Jesu eingeschaltet worden, ist jedoch als
Einschiebsel sofort kenntlich"). Wie in den jüdischen Offenbarungen theilen sich
auch hier die kommenden Zeiten in drei Perioden: die ersten Wehen, welche
in falschen Propheten, Kriegen, Hungersnvthcn bestehen; dann kommt die Zeit
der Trübsal, der blutigen Verfolgung, bis die Botschaft vom Reich allen Völ¬
kern gepredigt ist; endlich die Katastrophe, die mit der frevelhaften Entweihung
des heiligen Orts beginnt. In diesen Tagen der Noth werden Sterne vom
Himmel fallen, der Himmel sich bewegen, und dann erscheint der Menschensohn
in den Wolken in seiner Kraft und Herrlichkeit, und seine Engel sammeln die
Auserwählten von den vier Weltgegenden. Das hohe Alter dieser Offenbarung
ergiebt sich schon daraus, daß ihr jeder specifisch christliche Zug fehlt. Nicht
nur ist der Messias noch nicht Weltrichter, sondern er sammelt seine Aus¬
erwählten offenbar zu einem weltlichen Reich, und baß der Gipfel der Prüfungs¬
zeit, wodurch das Maß voll wird, in die EntHeiligung des Tempels gehest
wird, ist ein so stark jüdischer Zug, daß es in der That fraglich ist, ob wir
hier nicht ursprünglich eine jüdische anstatt einer christlichen Apokalypse haben.

Eine andere weit ausgeführtere Offenbarung ist uns bekanntlich unter dem
Namen des Apostels Johannes erhalten, und zwar trägt sie, wie schon früher
ausgeführt worden, ohne Zweifel mit Recht diesen apostolischen Namen an der
Spitze. Was ist nicht alles über dieses Buch scharfsinniges und Unsinniges
ausgeklügelt worden, zu welch ungeheuerlichen Verirrungen, zu welchem Schwall
mühseliger Berechnungen hat sie nicht Veranlassung gegeben! Von den ältesten
allegorischen Deutungen an bis zu den Zeiten der Reformation, wo das Anti-
christenthum den Protestanten ohne Ausnahme als das Papstthum erschien, wäh¬
rend die Katholiken damit antworteten, daß sie das Ende des tausendjährigen



') Es ist die Stelle Matth. 24, 4--35. Jesus verkündigt seinen Jüngern die Zerstörung
des Tempels, Diese frage", bis wann dies geschehen werde, und Jesus antwortet: den Tag
und die Stunde wisse Gott allein, Zwischen jene Frage und diese Antwort ist jene Apoka¬
lypse eingeschoben. Von Marcus ist dieselbe ziemlich unverändert aufgenommen. Bei Lucas
ist sie mit Zügen, die der inzwischen eingetroffenen Zerstörung von Jerusalem entnommen
sind, stark perfekt. Vgl. <!01col, ^Lsug-Lo'ihr, ize los ora^lwcizs mkLsiimisiuW no soll
temxs. Straßburg, 18V4. S. 201 ff.

in den ältesten christlichen Apokalypsen, die wir noch besitzen, selbst diese Mo¬
difikation noch nicht anzutreffen.

Es sind uns nämlich noch ein paar altchristlicher Apokalypsen oder Offen¬
barungen dieser Art in unsrem Kanon erhalten, kostbare Ueberreste, allerdings
schon unter dem Eindruck der beginnenden Verfolgungen geschrieben, welche den
Glauben an die Wiederkunft Jesu aufs äußerste anspannen mußten, gleichwohl
die treuesten Zeugnisse für den Ideenkreis und die Stimmung der ältesten Chri¬
stengemeinde. Die eine kleinere und ohne Zweifel ältere dieser Apokalypsen
ist später seltsamerweise einer Rede Jesu eingeschaltet worden, ist jedoch als
Einschiebsel sofort kenntlich"). Wie in den jüdischen Offenbarungen theilen sich
auch hier die kommenden Zeiten in drei Perioden: die ersten Wehen, welche
in falschen Propheten, Kriegen, Hungersnvthcn bestehen; dann kommt die Zeit
der Trübsal, der blutigen Verfolgung, bis die Botschaft vom Reich allen Völ¬
kern gepredigt ist; endlich die Katastrophe, die mit der frevelhaften Entweihung
des heiligen Orts beginnt. In diesen Tagen der Noth werden Sterne vom
Himmel fallen, der Himmel sich bewegen, und dann erscheint der Menschensohn
in den Wolken in seiner Kraft und Herrlichkeit, und seine Engel sammeln die
Auserwählten von den vier Weltgegenden. Das hohe Alter dieser Offenbarung
ergiebt sich schon daraus, daß ihr jeder specifisch christliche Zug fehlt. Nicht
nur ist der Messias noch nicht Weltrichter, sondern er sammelt seine Aus¬
erwählten offenbar zu einem weltlichen Reich, und baß der Gipfel der Prüfungs¬
zeit, wodurch das Maß voll wird, in die EntHeiligung des Tempels gehest
wird, ist ein so stark jüdischer Zug, daß es in der That fraglich ist, ob wir
hier nicht ursprünglich eine jüdische anstatt einer christlichen Apokalypse haben.

Eine andere weit ausgeführtere Offenbarung ist uns bekanntlich unter dem
Namen des Apostels Johannes erhalten, und zwar trägt sie, wie schon früher
ausgeführt worden, ohne Zweifel mit Recht diesen apostolischen Namen an der
Spitze. Was ist nicht alles über dieses Buch scharfsinniges und Unsinniges
ausgeklügelt worden, zu welch ungeheuerlichen Verirrungen, zu welchem Schwall
mühseliger Berechnungen hat sie nicht Veranlassung gegeben! Von den ältesten
allegorischen Deutungen an bis zu den Zeiten der Reformation, wo das Anti-
christenthum den Protestanten ohne Ausnahme als das Papstthum erschien, wäh¬
rend die Katholiken damit antworteten, daß sie das Ende des tausendjährigen



') Es ist die Stelle Matth. 24, 4—35. Jesus verkündigt seinen Jüngern die Zerstörung
des Tempels, Diese frage», bis wann dies geschehen werde, und Jesus antwortet: den Tag
und die Stunde wisse Gott allein, Zwischen jene Frage und diese Antwort ist jene Apoka¬
lypse eingeschoben. Von Marcus ist dieselbe ziemlich unverändert aufgenommen. Bei Lucas
ist sie mit Zügen, die der inzwischen eingetroffenen Zerstörung von Jerusalem entnommen
sind, stark perfekt. Vgl. <!01col, ^Lsug-Lo'ihr, ize los ora^lwcizs mkLsiimisiuW no soll
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[0512] in den ältesten christlichen Apokalypsen, die wir noch besitzen, selbst diese Mo¬ difikation noch nicht anzutreffen. Es sind uns nämlich noch ein paar altchristlicher Apokalypsen oder Offen¬ barungen dieser Art in unsrem Kanon erhalten, kostbare Ueberreste, allerdings schon unter dem Eindruck der beginnenden Verfolgungen geschrieben, welche den Glauben an die Wiederkunft Jesu aufs äußerste anspannen mußten, gleichwohl die treuesten Zeugnisse für den Ideenkreis und die Stimmung der ältesten Chri¬ stengemeinde. Die eine kleinere und ohne Zweifel ältere dieser Apokalypsen ist später seltsamerweise einer Rede Jesu eingeschaltet worden, ist jedoch als Einschiebsel sofort kenntlich"). Wie in den jüdischen Offenbarungen theilen sich auch hier die kommenden Zeiten in drei Perioden: die ersten Wehen, welche in falschen Propheten, Kriegen, Hungersnvthcn bestehen; dann kommt die Zeit der Trübsal, der blutigen Verfolgung, bis die Botschaft vom Reich allen Völ¬ kern gepredigt ist; endlich die Katastrophe, die mit der frevelhaften Entweihung des heiligen Orts beginnt. In diesen Tagen der Noth werden Sterne vom Himmel fallen, der Himmel sich bewegen, und dann erscheint der Menschensohn in den Wolken in seiner Kraft und Herrlichkeit, und seine Engel sammeln die Auserwählten von den vier Weltgegenden. Das hohe Alter dieser Offenbarung ergiebt sich schon daraus, daß ihr jeder specifisch christliche Zug fehlt. Nicht nur ist der Messias noch nicht Weltrichter, sondern er sammelt seine Aus¬ erwählten offenbar zu einem weltlichen Reich, und baß der Gipfel der Prüfungs¬ zeit, wodurch das Maß voll wird, in die EntHeiligung des Tempels gehest wird, ist ein so stark jüdischer Zug, daß es in der That fraglich ist, ob wir hier nicht ursprünglich eine jüdische anstatt einer christlichen Apokalypse haben. Eine andere weit ausgeführtere Offenbarung ist uns bekanntlich unter dem Namen des Apostels Johannes erhalten, und zwar trägt sie, wie schon früher ausgeführt worden, ohne Zweifel mit Recht diesen apostolischen Namen an der Spitze. Was ist nicht alles über dieses Buch scharfsinniges und Unsinniges ausgeklügelt worden, zu welch ungeheuerlichen Verirrungen, zu welchem Schwall mühseliger Berechnungen hat sie nicht Veranlassung gegeben! Von den ältesten allegorischen Deutungen an bis zu den Zeiten der Reformation, wo das Anti- christenthum den Protestanten ohne Ausnahme als das Papstthum erschien, wäh¬ rend die Katholiken damit antworteten, daß sie das Ende des tausendjährigen ') Es ist die Stelle Matth. 24, 4—35. Jesus verkündigt seinen Jüngern die Zerstörung des Tempels, Diese frage», bis wann dies geschehen werde, und Jesus antwortet: den Tag und die Stunde wisse Gott allein, Zwischen jene Frage und diese Antwort ist jene Apoka¬ lypse eingeschoben. Von Marcus ist dieselbe ziemlich unverändert aufgenommen. Bei Lucas ist sie mit Zügen, die der inzwischen eingetroffenen Zerstörung von Jerusalem entnommen sind, stark perfekt. Vgl. <!01col, ^Lsug-Lo'ihr, ize los ora^lwcizs mkLsiimisiuW no soll temxs. Straßburg, 18V4. S. 201 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/512>, abgerufen am 28.09.2024.