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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Reichs mit den Türkeneinfällen und mit der Erscheinung Luthers zusammen¬
fallen ließen, und wo die Heuschrecken des 9. Cap. von den Katholiken auf
die Lutheraner, von den Lutheranern auf die Katholiken gedeutet wurden! Und
wieder in den neueren Zeiten von Bengel an, auf dessen Autorität hin die
Frommen unter Zittern und Zagen am 18. Juni 1836 den Weltuntergang er¬
warteten, bis auf Hengstenberg, diesen Hanswurst der modernen Orthodoxie,
der jene kronentragenden Heuschrecken auf die Demokraten bezog, die sich mit
dem Princip der Volkssouveränetät brüsten, wie er unter Gog und Magog die
Demagogie des Jahres 1848 verstand und in den öfters genannten Malzeichen
die Sucht unserer Tage nach äußerlichen Abzeichen, speciell die schwarzrothgol-
dene Kokarde vorgebildet fand!

Die Offenbarung des Johannes war so lange unverständlich, als man
in ihr ein prophetisches Compendium der Weltgeschichte erblickte, und die ein¬
zelnen historischen Ereignisse aus ihren Visionen herauszulesen versuchte. Ihre
Zahlensymbolik, ihre Bildersprache bot den weitesten Spielraum dar, um alles
Mögliche, je nach dem subjectiven Partcistandpunkt, in ihr aufzufinden. Ver¬
ständlich wurde sie erst, als man sie in die apokalyptische Literatur der Juden
und ersten Christen einreihte und auf ihre geschichtlichen Beziehungen ansah.
Jetzt sind die sieben Siegel längst gelöst. Bei keinem neutestamentlichen Buch
sieht man so klar auf den Grund und in die Motive ihrer Entstehung, ja bei
keinem hat man so genau die Zeit der Abfassung berechnen können*). Man
weiß jetzt, daß die Offenbarung in der zweiten Hälfte des Jahres 68 verfaßt
ist. Sie ist geschrieben unter dem Eindrucke der neronischen Christenverfolgungen.
Jetzt schien das Maß voll zu sein; in dem teuflischen Wüthen Roms gegen die
Christen war die antichristliche Macht auf den höchsten Gipfel gekommen, in
Nero war der Todfeind Christi, der Widerchrist selbst erschienen. Jetzt in die¬
sem Moment mußte Christus wiederkommen, um das teuflische Ungethüm in
den Abgrund zu stürzen. Denn die lebende Generation -- das war der all¬
gemeine Glaube -- sollte ja den Herrn wieder sehen, und dazu war es die
höchste Zeit. Schon Johannes stand in hohem Alter, als er diese Visionen
niederschrieb. Die Darstellung, welche der Seher von den Ereignissen vor der
Ankunft des Messias gab, beruhte aus der Volkssage, die sich nach dem Sturz
und Tode Neros -- ursprünglich wohl in christlichen Kreisen gebildet hatte,
der Kaiser sei nicht gestorben, sondern lebe noch verborgen im Orient bei den
Parthern, mit welchen er herankommen werde, begleitet von den Heeren und
Statthaltern der Provinzen, um furchtbare Rache zu nehmen an der empö¬
rerischen Hauptstadt. Aber nur scheinbar für sich wird er Rache nehmen, sondern



") Vgl. besonders Volckmar. die Religion Jesu. S. 148 ff.
Grenzboten III. 1864.64

Reichs mit den Türkeneinfällen und mit der Erscheinung Luthers zusammen¬
fallen ließen, und wo die Heuschrecken des 9. Cap. von den Katholiken auf
die Lutheraner, von den Lutheranern auf die Katholiken gedeutet wurden! Und
wieder in den neueren Zeiten von Bengel an, auf dessen Autorität hin die
Frommen unter Zittern und Zagen am 18. Juni 1836 den Weltuntergang er¬
warteten, bis auf Hengstenberg, diesen Hanswurst der modernen Orthodoxie,
der jene kronentragenden Heuschrecken auf die Demokraten bezog, die sich mit
dem Princip der Volkssouveränetät brüsten, wie er unter Gog und Magog die
Demagogie des Jahres 1848 verstand und in den öfters genannten Malzeichen
die Sucht unserer Tage nach äußerlichen Abzeichen, speciell die schwarzrothgol-
dene Kokarde vorgebildet fand!

Die Offenbarung des Johannes war so lange unverständlich, als man
in ihr ein prophetisches Compendium der Weltgeschichte erblickte, und die ein¬
zelnen historischen Ereignisse aus ihren Visionen herauszulesen versuchte. Ihre
Zahlensymbolik, ihre Bildersprache bot den weitesten Spielraum dar, um alles
Mögliche, je nach dem subjectiven Partcistandpunkt, in ihr aufzufinden. Ver¬
ständlich wurde sie erst, als man sie in die apokalyptische Literatur der Juden
und ersten Christen einreihte und auf ihre geschichtlichen Beziehungen ansah.
Jetzt sind die sieben Siegel längst gelöst. Bei keinem neutestamentlichen Buch
sieht man so klar auf den Grund und in die Motive ihrer Entstehung, ja bei
keinem hat man so genau die Zeit der Abfassung berechnen können*). Man
weiß jetzt, daß die Offenbarung in der zweiten Hälfte des Jahres 68 verfaßt
ist. Sie ist geschrieben unter dem Eindrucke der neronischen Christenverfolgungen.
Jetzt schien das Maß voll zu sein; in dem teuflischen Wüthen Roms gegen die
Christen war die antichristliche Macht auf den höchsten Gipfel gekommen, in
Nero war der Todfeind Christi, der Widerchrist selbst erschienen. Jetzt in die¬
sem Moment mußte Christus wiederkommen, um das teuflische Ungethüm in
den Abgrund zu stürzen. Denn die lebende Generation — das war der all¬
gemeine Glaube — sollte ja den Herrn wieder sehen, und dazu war es die
höchste Zeit. Schon Johannes stand in hohem Alter, als er diese Visionen
niederschrieb. Die Darstellung, welche der Seher von den Ereignissen vor der
Ankunft des Messias gab, beruhte aus der Volkssage, die sich nach dem Sturz
und Tode Neros — ursprünglich wohl in christlichen Kreisen gebildet hatte,
der Kaiser sei nicht gestorben, sondern lebe noch verborgen im Orient bei den
Parthern, mit welchen er herankommen werde, begleitet von den Heeren und
Statthaltern der Provinzen, um furchtbare Rache zu nehmen an der empö¬
rerischen Hauptstadt. Aber nur scheinbar für sich wird er Rache nehmen, sondern



") Vgl. besonders Volckmar. die Religion Jesu. S. 148 ff.
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[0513] Reichs mit den Türkeneinfällen und mit der Erscheinung Luthers zusammen¬ fallen ließen, und wo die Heuschrecken des 9. Cap. von den Katholiken auf die Lutheraner, von den Lutheranern auf die Katholiken gedeutet wurden! Und wieder in den neueren Zeiten von Bengel an, auf dessen Autorität hin die Frommen unter Zittern und Zagen am 18. Juni 1836 den Weltuntergang er¬ warteten, bis auf Hengstenberg, diesen Hanswurst der modernen Orthodoxie, der jene kronentragenden Heuschrecken auf die Demokraten bezog, die sich mit dem Princip der Volkssouveränetät brüsten, wie er unter Gog und Magog die Demagogie des Jahres 1848 verstand und in den öfters genannten Malzeichen die Sucht unserer Tage nach äußerlichen Abzeichen, speciell die schwarzrothgol- dene Kokarde vorgebildet fand! Die Offenbarung des Johannes war so lange unverständlich, als man in ihr ein prophetisches Compendium der Weltgeschichte erblickte, und die ein¬ zelnen historischen Ereignisse aus ihren Visionen herauszulesen versuchte. Ihre Zahlensymbolik, ihre Bildersprache bot den weitesten Spielraum dar, um alles Mögliche, je nach dem subjectiven Partcistandpunkt, in ihr aufzufinden. Ver¬ ständlich wurde sie erst, als man sie in die apokalyptische Literatur der Juden und ersten Christen einreihte und auf ihre geschichtlichen Beziehungen ansah. Jetzt sind die sieben Siegel längst gelöst. Bei keinem neutestamentlichen Buch sieht man so klar auf den Grund und in die Motive ihrer Entstehung, ja bei keinem hat man so genau die Zeit der Abfassung berechnen können*). Man weiß jetzt, daß die Offenbarung in der zweiten Hälfte des Jahres 68 verfaßt ist. Sie ist geschrieben unter dem Eindrucke der neronischen Christenverfolgungen. Jetzt schien das Maß voll zu sein; in dem teuflischen Wüthen Roms gegen die Christen war die antichristliche Macht auf den höchsten Gipfel gekommen, in Nero war der Todfeind Christi, der Widerchrist selbst erschienen. Jetzt in die¬ sem Moment mußte Christus wiederkommen, um das teuflische Ungethüm in den Abgrund zu stürzen. Denn die lebende Generation — das war der all¬ gemeine Glaube — sollte ja den Herrn wieder sehen, und dazu war es die höchste Zeit. Schon Johannes stand in hohem Alter, als er diese Visionen niederschrieb. Die Darstellung, welche der Seher von den Ereignissen vor der Ankunft des Messias gab, beruhte aus der Volkssage, die sich nach dem Sturz und Tode Neros — ursprünglich wohl in christlichen Kreisen gebildet hatte, der Kaiser sei nicht gestorben, sondern lebe noch verborgen im Orient bei den Parthern, mit welchen er herankommen werde, begleitet von den Heeren und Statthaltern der Provinzen, um furchtbare Rache zu nehmen an der empö¬ rerischen Hauptstadt. Aber nur scheinbar für sich wird er Rache nehmen, sondern ") Vgl. besonders Volckmar. die Religion Jesu. S. 148 ff. Grenzboten III. 1864.64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/513>, abgerufen am 28.09.2024.