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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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wunder gebracht, mit dem plötzlichen Lichtglanz, dem Niederfallen, dem Zwie¬
gespräch mit der Erscheinung, dem Blindwerden, der Heilung, den Traum¬
gesichten, kurz es ist eine jener landläufigen Wundergeschichten geworden, wie
sie bei den Juden und ältesten Christen im Schwange waren. Eine andere Rich¬
tung nahm die Sage mit jenen Christusvisionen, welche den älteren Aposteln
zu Theil geworden waren. Versuchen wir es, uns in die damalige Stimmung
der Jünger zu versetzen. Unmittelbar nach der Hinrichtung ihres Meisters
waren sie aus Jerusalem geflohen. Sie mochten Grund haben, auch eine Ver¬
folgung der Schüler dessen, der den Einsturz des Tempels verkündigt hatte, zu
fürchten, und kehrten nach ihrer Heimath Galiläa zurück, wo sie außerhalb des
nächsten Machtbereichs der hierarchischen Partei waren. Jetzt, in dieser Zeit
der stillen Sammlung mußte es sich entscheiden, ob ihr Glaube an die Messia-
nität Jesu start genug war, sich auch durch dessen jähes blutiges Schicksal nicht
erschüttern zu lassen. Was sie an diesem Glauben wanken machen konnte, war
nicht die Thatsache seines Todes. Die Juden hatten nie an einen Messias ge¬
dacht, der den Tod nicht sehen würde. Ob sie das Kommen des Messias und
seine Herrschaft erst nach dem großen Tage des Gerichts oder vor demselben
sich vorstellten, -- letztere Anschauung war allmälig überwiegend geworden, --
immer blieb ihnen der Messias ein Mensch, dessen Reich zwar von ungewöhn¬
licher Dauer sein, das aber schließlich ein natürliches Ende nehmen würde.
Allein dieser Tod, der Verbrechertod am Kreuz, der Tod vor der Aufrichtung
des sichtbaren Gottecsreiches war etwas, was mit dem Glauben an die Messia-
nität Jesu unvereinbar schien. Weder die Voraussagungen Jesu von seinem
Sterben, noch die Andeutungen, die er von einem Wiederkommen zur Voll¬
endung des Reichs gemacht haben mochte, waren im ersten Augenblick im Stand,
diese Kluft zu überbrücken und sie mit der jähen Thatsache seines Todes, mit
welchem Alles zu Ende schien, zu versöhnen. Wir dürfen nicht vergessen, daß
allen Spures zufolge Jesus erst kurz vor seinem Aufbruch zur letzten Reise nach
Jerusalem sich vor seinen Jüngern als Messias bekannte und daß er gleichzeitig
begann, seine Ahnung von einem baldigen Tod auszusprechen. In dieser Zeit
der vollends rasch sich drängenden Ereignisse, da zudem der übermächtige Ein¬
druck der Persönlichkeit Jesu jeden Zweifel von ihnen fernhielt, konnten sie
nicht daran denken, sich theoretisch ihren Messiasglauben zurechtzulegen. Alles
hatte für sie an der Persönlichkeit Jesu gehangen, und diese Persönlichkett
war jetzt nicht mehr. So traf sie die Katastrophe trotz allem unvorbereitet,
geistig unfertig; überwältigend, niederschmetternd mußten die Ereignisse in
Jerusalem auf sie wirken. Er war nicht mehr, und hatte sie rath- und hilf¬
los zurückgelassen -- dieser Gedanke drängte im ersten Augenblick alles Andere
zurück. Aber derselbe Gedanke mußte sie auch alsbald antreiben, sich das
Bild ihres Meisters, seine Worte, seine Handlungen wieder aufs innigste ein-


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wunder gebracht, mit dem plötzlichen Lichtglanz, dem Niederfallen, dem Zwie¬
gespräch mit der Erscheinung, dem Blindwerden, der Heilung, den Traum¬
gesichten, kurz es ist eine jener landläufigen Wundergeschichten geworden, wie
sie bei den Juden und ältesten Christen im Schwange waren. Eine andere Rich¬
tung nahm die Sage mit jenen Christusvisionen, welche den älteren Aposteln
zu Theil geworden waren. Versuchen wir es, uns in die damalige Stimmung
der Jünger zu versetzen. Unmittelbar nach der Hinrichtung ihres Meisters
waren sie aus Jerusalem geflohen. Sie mochten Grund haben, auch eine Ver¬
folgung der Schüler dessen, der den Einsturz des Tempels verkündigt hatte, zu
fürchten, und kehrten nach ihrer Heimath Galiläa zurück, wo sie außerhalb des
nächsten Machtbereichs der hierarchischen Partei waren. Jetzt, in dieser Zeit
der stillen Sammlung mußte es sich entscheiden, ob ihr Glaube an die Messia-
nität Jesu start genug war, sich auch durch dessen jähes blutiges Schicksal nicht
erschüttern zu lassen. Was sie an diesem Glauben wanken machen konnte, war
nicht die Thatsache seines Todes. Die Juden hatten nie an einen Messias ge¬
dacht, der den Tod nicht sehen würde. Ob sie das Kommen des Messias und
seine Herrschaft erst nach dem großen Tage des Gerichts oder vor demselben
sich vorstellten, — letztere Anschauung war allmälig überwiegend geworden, —
immer blieb ihnen der Messias ein Mensch, dessen Reich zwar von ungewöhn¬
licher Dauer sein, das aber schließlich ein natürliches Ende nehmen würde.
Allein dieser Tod, der Verbrechertod am Kreuz, der Tod vor der Aufrichtung
des sichtbaren Gottecsreiches war etwas, was mit dem Glauben an die Messia-
nität Jesu unvereinbar schien. Weder die Voraussagungen Jesu von seinem
Sterben, noch die Andeutungen, die er von einem Wiederkommen zur Voll¬
endung des Reichs gemacht haben mochte, waren im ersten Augenblick im Stand,
diese Kluft zu überbrücken und sie mit der jähen Thatsache seines Todes, mit
welchem Alles zu Ende schien, zu versöhnen. Wir dürfen nicht vergessen, daß
allen Spures zufolge Jesus erst kurz vor seinem Aufbruch zur letzten Reise nach
Jerusalem sich vor seinen Jüngern als Messias bekannte und daß er gleichzeitig
begann, seine Ahnung von einem baldigen Tod auszusprechen. In dieser Zeit
der vollends rasch sich drängenden Ereignisse, da zudem der übermächtige Ein¬
druck der Persönlichkeit Jesu jeden Zweifel von ihnen fernhielt, konnten sie
nicht daran denken, sich theoretisch ihren Messiasglauben zurechtzulegen. Alles
hatte für sie an der Persönlichkeit Jesu gehangen, und diese Persönlichkett
war jetzt nicht mehr. So traf sie die Katastrophe trotz allem unvorbereitet,
geistig unfertig; überwältigend, niederschmetternd mußten die Ereignisse in
Jerusalem auf sie wirken. Er war nicht mehr, und hatte sie rath- und hilf¬
los zurückgelassen — dieser Gedanke drängte im ersten Augenblick alles Andere
zurück. Aber derselbe Gedanke mußte sie auch alsbald antreiben, sich das
Bild ihres Meisters, seine Worte, seine Handlungen wieder aufs innigste ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/507>, abgerufen am 28.09.2024.