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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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zuprägen und zu vergegenwärtigen. Alle ihre Gedanken waren auf ihn ge¬
richtet. Und hier in Galüäa mahnte ja jede Oertlichkeit, die Berge, die Seen,
die Synagogen an ihn. hier waren sie mit ihm von Flecken zu Flecken ge¬
wandelt, hier hatten sie seine ersten Worte vernommen, in seinem Auftrag zum
Reiche Gottes eingeladen. Das Bild des Meisters, das sie in sich erneuerten, blieb
doch zuletzt siegreich und füllte ihr ganzes Bewußtsein aus. Jene angstvollen
Zweifel, in welchen sie mit aller Kraft um die Behauptung ihres Glaubens
rangen, und diese immer erneuten Bemühungen ihrer Einbildungskraft, sein Bild
sich zu vergegenwärtigen, jene höchste Anspannung des Nerven- und Geistes¬
lebens und diese Anstrengungen, den Verstorbenen zurückzurufen vor ihr geistiges
Auge -- dies eben war die Geburtsstätte jener Visionen, in welchen sie wirk¬
liche Erscheinungen des Gekreuzigten vor sich zu haben glaubten, wie später
Paulus aufs sicherste überzeugt war, in seinen Offenbarungen den Herrn zu
sehen. Möglich daß Maria von Magdala, dieselbe, aus welcher Jesus sieben
Dämonen ausgetrieben hatte, die also vermöge ihrer Körper- und Geistes¬
beschaffenheit am meisten zu solchen ekstatischen, nervösen Zuständen disponirt
war, zuerst eine solche Vision hatte, die sich ansteckend den anderen mittheilte.
Fast in allen Berichten hat sie eine bevorzugte Rolle bei den Erscheinungen des
Auferstandenen. Möglich daß besonders in Momenten einer gemeinsam erhöhten
Stimmung, z. B. bei der Wiederholung des Abendmahls, -- auch davon sind
Spuren vorhanden -- diese Visionen sich einstellten. Möglich daß sie weiterhin
in irgend einem Unbekannten, der ihnen begegnete und auf sie einen geheimniß-
vollen Eindruck machte, eine Wiederholung der Erscheinung zu sehen glaubten.
Aber wie wir uns auch diese Erscheinungen näher zu denken haben, Thatsache
ist, daß durch sie zuerst die Jünger das Bewußtsein wiedergewannen, daß ihr
Glaube an Jesus nicht eitel gewesen sei, und das Werk, zu dem er gekommen,
auf irgendeine Weise sich erfüllen müsse. Da er sich ihnen zu erkennen
gab, war ja noch nicht alles vorbei, eine Zukunft that sich vor ihnen aus,
und wenn ihnen auch zunächst diese Zukunft nur eine unbestimmte Ahnung
sein mochte, so gab sie ihnen doch die Festigkeit auszuharren, den Muth sich
wieder zu sammeln und mit dem Ruf: er lebt! er wird wiederkommen! nach
Jerusalem zurückzukehren.

Er wird wiederkommen! Woher dieser zweite Ruf? Er war nicht wie der
andere eine unmittelbare Thatsache ihres Bewußtseins, er war bereits vermittelt
durch die Reflexiv", die sich, um die Realität jener Erscheinungen festzuhalten,
sofort daran anknüpfte und ihre Stützen einer erneuerten Durchforschung des
alten Testaments entlehnte. Er lebt! Dies war ihnen unmittelbar gewiß ge¬
worden, aber nun galt es, in den Schriften zu forschen, um die Weissagungen
in Einklang zu bringen mit den neuen Erfahrungen. Denn so viel stand ihnen
fest, wie durchsichtig auch für Jesus selbst die Messiashülle gewesen sein mochte,


zuprägen und zu vergegenwärtigen. Alle ihre Gedanken waren auf ihn ge¬
richtet. Und hier in Galüäa mahnte ja jede Oertlichkeit, die Berge, die Seen,
die Synagogen an ihn. hier waren sie mit ihm von Flecken zu Flecken ge¬
wandelt, hier hatten sie seine ersten Worte vernommen, in seinem Auftrag zum
Reiche Gottes eingeladen. Das Bild des Meisters, das sie in sich erneuerten, blieb
doch zuletzt siegreich und füllte ihr ganzes Bewußtsein aus. Jene angstvollen
Zweifel, in welchen sie mit aller Kraft um die Behauptung ihres Glaubens
rangen, und diese immer erneuten Bemühungen ihrer Einbildungskraft, sein Bild
sich zu vergegenwärtigen, jene höchste Anspannung des Nerven- und Geistes¬
lebens und diese Anstrengungen, den Verstorbenen zurückzurufen vor ihr geistiges
Auge — dies eben war die Geburtsstätte jener Visionen, in welchen sie wirk¬
liche Erscheinungen des Gekreuzigten vor sich zu haben glaubten, wie später
Paulus aufs sicherste überzeugt war, in seinen Offenbarungen den Herrn zu
sehen. Möglich daß Maria von Magdala, dieselbe, aus welcher Jesus sieben
Dämonen ausgetrieben hatte, die also vermöge ihrer Körper- und Geistes¬
beschaffenheit am meisten zu solchen ekstatischen, nervösen Zuständen disponirt
war, zuerst eine solche Vision hatte, die sich ansteckend den anderen mittheilte.
Fast in allen Berichten hat sie eine bevorzugte Rolle bei den Erscheinungen des
Auferstandenen. Möglich daß besonders in Momenten einer gemeinsam erhöhten
Stimmung, z. B. bei der Wiederholung des Abendmahls, — auch davon sind
Spuren vorhanden — diese Visionen sich einstellten. Möglich daß sie weiterhin
in irgend einem Unbekannten, der ihnen begegnete und auf sie einen geheimniß-
vollen Eindruck machte, eine Wiederholung der Erscheinung zu sehen glaubten.
Aber wie wir uns auch diese Erscheinungen näher zu denken haben, Thatsache
ist, daß durch sie zuerst die Jünger das Bewußtsein wiedergewannen, daß ihr
Glaube an Jesus nicht eitel gewesen sei, und das Werk, zu dem er gekommen,
auf irgendeine Weise sich erfüllen müsse. Da er sich ihnen zu erkennen
gab, war ja noch nicht alles vorbei, eine Zukunft that sich vor ihnen aus,
und wenn ihnen auch zunächst diese Zukunft nur eine unbestimmte Ahnung
sein mochte, so gab sie ihnen doch die Festigkeit auszuharren, den Muth sich
wieder zu sammeln und mit dem Ruf: er lebt! er wird wiederkommen! nach
Jerusalem zurückzukehren.

Er wird wiederkommen! Woher dieser zweite Ruf? Er war nicht wie der
andere eine unmittelbare Thatsache ihres Bewußtseins, er war bereits vermittelt
durch die Reflexiv», die sich, um die Realität jener Erscheinungen festzuhalten,
sofort daran anknüpfte und ihre Stützen einer erneuerten Durchforschung des
alten Testaments entlehnte. Er lebt! Dies war ihnen unmittelbar gewiß ge¬
worden, aber nun galt es, in den Schriften zu forschen, um die Weissagungen
in Einklang zu bringen mit den neuen Erfahrungen. Denn so viel stand ihnen
fest, wie durchsichtig auch für Jesus selbst die Messiashülle gewesen sein mochte,


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[0508] zuprägen und zu vergegenwärtigen. Alle ihre Gedanken waren auf ihn ge¬ richtet. Und hier in Galüäa mahnte ja jede Oertlichkeit, die Berge, die Seen, die Synagogen an ihn. hier waren sie mit ihm von Flecken zu Flecken ge¬ wandelt, hier hatten sie seine ersten Worte vernommen, in seinem Auftrag zum Reiche Gottes eingeladen. Das Bild des Meisters, das sie in sich erneuerten, blieb doch zuletzt siegreich und füllte ihr ganzes Bewußtsein aus. Jene angstvollen Zweifel, in welchen sie mit aller Kraft um die Behauptung ihres Glaubens rangen, und diese immer erneuten Bemühungen ihrer Einbildungskraft, sein Bild sich zu vergegenwärtigen, jene höchste Anspannung des Nerven- und Geistes¬ lebens und diese Anstrengungen, den Verstorbenen zurückzurufen vor ihr geistiges Auge — dies eben war die Geburtsstätte jener Visionen, in welchen sie wirk¬ liche Erscheinungen des Gekreuzigten vor sich zu haben glaubten, wie später Paulus aufs sicherste überzeugt war, in seinen Offenbarungen den Herrn zu sehen. Möglich daß Maria von Magdala, dieselbe, aus welcher Jesus sieben Dämonen ausgetrieben hatte, die also vermöge ihrer Körper- und Geistes¬ beschaffenheit am meisten zu solchen ekstatischen, nervösen Zuständen disponirt war, zuerst eine solche Vision hatte, die sich ansteckend den anderen mittheilte. Fast in allen Berichten hat sie eine bevorzugte Rolle bei den Erscheinungen des Auferstandenen. Möglich daß besonders in Momenten einer gemeinsam erhöhten Stimmung, z. B. bei der Wiederholung des Abendmahls, — auch davon sind Spuren vorhanden — diese Visionen sich einstellten. Möglich daß sie weiterhin in irgend einem Unbekannten, der ihnen begegnete und auf sie einen geheimniß- vollen Eindruck machte, eine Wiederholung der Erscheinung zu sehen glaubten. Aber wie wir uns auch diese Erscheinungen näher zu denken haben, Thatsache ist, daß durch sie zuerst die Jünger das Bewußtsein wiedergewannen, daß ihr Glaube an Jesus nicht eitel gewesen sei, und das Werk, zu dem er gekommen, auf irgendeine Weise sich erfüllen müsse. Da er sich ihnen zu erkennen gab, war ja noch nicht alles vorbei, eine Zukunft that sich vor ihnen aus, und wenn ihnen auch zunächst diese Zukunft nur eine unbestimmte Ahnung sein mochte, so gab sie ihnen doch die Festigkeit auszuharren, den Muth sich wieder zu sammeln und mit dem Ruf: er lebt! er wird wiederkommen! nach Jerusalem zurückzukehren. Er wird wiederkommen! Woher dieser zweite Ruf? Er war nicht wie der andere eine unmittelbare Thatsache ihres Bewußtseins, er war bereits vermittelt durch die Reflexiv», die sich, um die Realität jener Erscheinungen festzuhalten, sofort daran anknüpfte und ihre Stützen einer erneuerten Durchforschung des alten Testaments entlehnte. Er lebt! Dies war ihnen unmittelbar gewiß ge¬ worden, aber nun galt es, in den Schriften zu forschen, um die Weissagungen in Einklang zu bringen mit den neuen Erfahrungen. Denn so viel stand ihnen fest, wie durchsichtig auch für Jesus selbst die Messiashülle gewesen sein mochte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/508>, abgerufen am 28.09.2024.