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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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weit traf. Und so hat auch Jesus seine weltgeschichtliche Bedeutung darin, daß
er mit der Religion des Herzens, die ihm als eigenste That in seinem Innersten
aufgegangen war, dasjenige aussprach, was als Ahnung, als halbbegriffenes
Sehnen in den Gemüthern bereits aufgedämmert war, den Besten bereits auf
der Zunge lag. Er allein hat es ausgesprochen; gewiß. Einer ist immer der
Berufene, der den Schleier hinwegnimmt von dem jetzt im Licht des Tages
strahlenden Kunstwerk, das inzwischen in der Stille gereift war. Warum ge¬
rade er es sein mußte, warum nicht ein Anderer, was geworden wäre, wenn
ihn der Sturm im See Genezareth verschlungen hätte, -- das sind aberwitzige
Fragen, mit denen die geschichtliche Betrachtung nichts mehr zu thun hat.
Warum hat Columbus die neue Welt entdeckt? Die Geschichte antwortet: er
hat sie entdeckt. Die geniale Persönlichkeit ist es, die schließlich das Wort aus¬
spricht, auf das sich die Anderen mühsam besannen. Es ist hier eine Berührung
des Einzelgcistes mit dem allgemeinen Menschengeist, die sich nicht weiter ana-
lysiren läßt, die man ein Räthsel, wenn man will ein Wunder nennen mag.
Aber es ist ein Wunder, das sich überall da wiederholt, wo eine große Epoche
in den Wehen liegt, bis ein überlegener Geist das lösende Wort spricht. Will
man Jesus eine ganz besondere einzige Stelle anweisen, weil die Wirkungen,
die sich an seinen Namen knüpfen, so unvergleichlich groß sind, so wird hier¬
gegen die Geschichte nichts einzuwenden haben, protestiren muß sie nur gegen
die kleinmüthige Voraussetzung, als ob, um das damals Geschehene möglich
zu machen, die ewigen Gesetze alles Seins eine Ausnahme erlitten hätte", als
ob das Christenthum sich nicht begreifen ließe, ohne die bequeme Kategorie
des absoluten Wunders. Und wird gesagt, daß die Religion Jesu unendlichen
Inhalts, von ewiger Dauer sei und niemals durch eine höhere Ncligivnsbildung
überschritten werden könne, so wird auch dies von denjenigen am wenigsten
bestritten werden, welche die Religion Jesu zu trennen wissen von den kirch¬
lichen Formen, aus deren verhängnißvoller Umarmung sie sich erst loszureißen sucht.




weit traf. Und so hat auch Jesus seine weltgeschichtliche Bedeutung darin, daß
er mit der Religion des Herzens, die ihm als eigenste That in seinem Innersten
aufgegangen war, dasjenige aussprach, was als Ahnung, als halbbegriffenes
Sehnen in den Gemüthern bereits aufgedämmert war, den Besten bereits auf
der Zunge lag. Er allein hat es ausgesprochen; gewiß. Einer ist immer der
Berufene, der den Schleier hinwegnimmt von dem jetzt im Licht des Tages
strahlenden Kunstwerk, das inzwischen in der Stille gereift war. Warum ge¬
rade er es sein mußte, warum nicht ein Anderer, was geworden wäre, wenn
ihn der Sturm im See Genezareth verschlungen hätte, — das sind aberwitzige
Fragen, mit denen die geschichtliche Betrachtung nichts mehr zu thun hat.
Warum hat Columbus die neue Welt entdeckt? Die Geschichte antwortet: er
hat sie entdeckt. Die geniale Persönlichkeit ist es, die schließlich das Wort aus¬
spricht, auf das sich die Anderen mühsam besannen. Es ist hier eine Berührung
des Einzelgcistes mit dem allgemeinen Menschengeist, die sich nicht weiter ana-
lysiren läßt, die man ein Räthsel, wenn man will ein Wunder nennen mag.
Aber es ist ein Wunder, das sich überall da wiederholt, wo eine große Epoche
in den Wehen liegt, bis ein überlegener Geist das lösende Wort spricht. Will
man Jesus eine ganz besondere einzige Stelle anweisen, weil die Wirkungen,
die sich an seinen Namen knüpfen, so unvergleichlich groß sind, so wird hier¬
gegen die Geschichte nichts einzuwenden haben, protestiren muß sie nur gegen
die kleinmüthige Voraussetzung, als ob, um das damals Geschehene möglich
zu machen, die ewigen Gesetze alles Seins eine Ausnahme erlitten hätte», als
ob das Christenthum sich nicht begreifen ließe, ohne die bequeme Kategorie
des absoluten Wunders. Und wird gesagt, daß die Religion Jesu unendlichen
Inhalts, von ewiger Dauer sei und niemals durch eine höhere Ncligivnsbildung
überschritten werden könne, so wird auch dies von denjenigen am wenigsten
bestritten werden, welche die Religion Jesu zu trennen wissen von den kirch¬
lichen Formen, aus deren verhängnißvoller Umarmung sie sich erst loszureißen sucht.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/434>, abgerufen am 28.09.2024.