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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Nahrung aus vorchristlichen Ideen. Nun wird es freilich nirgends geläugnet,
daß zur Ausbildung der Dogmen wie der kirchlichen Institutionen jüdische und
heidnische Elemente mitgewirkt haben. Aber man pflegte sich doch früher die
Sache so vorzustellen, als ob eine Zeit lang Kirche und Lehrbegriff sich in ur¬
sprünglicher Reinheit erhalten und erst später von außen Fremdartiges sich ein¬
gedrängt hätte, und daher datirte man dann die Depravation des Katholicis¬
mus. Allein die Wahrheit ist, daß es nie eine Kirche und nie einen Lehrbegriff
gab ohne jene Einmischung fremder Elemente. Das '.Christenthum constituirte
sich eben indem es sich mit diesen Elementen sättigte, sie kamen so wenig erst
von außen herzu, daß wir die tiefste Wurzel ihres Einflusses vielmehr schon
im Messiasbegriff erkennen müssen. Die Verwirklichung des Christenthums war
unmittelbar seine Verweltlichung. Aber die reine Idealität der ursprünglichen
Lebre Jesu ist auch die.ewig.fortwirkende Kraft, durch.welche es sich immer
wieder aus seiner Verweltlichung in Lehre und Verfassung herauszureißen strebt
und vermag.

So ist denn das Christenthum als die Idee einer rein geistigen Religion
das letzte reinste Resultat der vorausgegangenen Entwicklungen und eben damit
der Anfang einer neuen Entwicklungsreihe. Ueberall ist Ursache und Wirkung.
Zufall und Willkür haben hier keine Stelle mehr. Nirgends ist eine Lücke, die
durch ein Wunder ausgefüllt werden müßte. So fein und vielverschlungen sind
die Fäden, die von dem Alten zum Neuen überleiten, daß wir nirgends eine
scharfe Grenzlinie ziehen können: hier hört das Alte auf, hier beginnt das
Neue. Und wir meinen, es gebe für die Betrachtung nichts Größeres, nichts
Erhabeneres, als diesen engen Zusammenhang, in welchem die Religion Jesu
nach rückwärts wie nach vorwärts in der Weltgeschichte steht.

Aber schon lange hören wir eine Einwendung, die in der That nahe liegt.
Wenn so der absolute Anfang des Christenthums gleichsam auseinandergelegt
wird in eine Reihe von Ursachen und Folgen, wo bleibt dann die Persönlich¬
keit Jesu, die Bedeutung seiner That, seine Originalität, seine geschichtliche
Würde? Ist nicht schon durch die außerordentlichen Wirkungen, die sich an
seinen Namen knüpfen, bezeugt, daß er eine ganz einzig geartete Persönlichkeit
war; ist es nicht schließlich doch seine Person, welche mitten inne steht zwischen
der alten und neuen Welt? Wir stellen die Gegenfrage: entzieht es Luther
etwas von seinem Verdienst, bleibt er nicht der gewaltige Reformator, bleibt
nicht die Reformation dennoch feine gewaltige That, auch wenn wir dieselbe
als den Abschluß einer längeren Entwicklungsreihe, als die Blüthe der in der
damaligen Zeit gährenden und wogenden Elemente, als den höchsten Ausdruck
des damaligen Zeitbewußtseins verstehen? Das Große an seiner Wirksamkeit
ist doch dies, daß er in den Kämpfen seiner Seele den Kampf seiner Zeit
durchkämpfte, daß er mit seiner eigensten Geistesthat in das Herz seiner Mit-


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Nahrung aus vorchristlichen Ideen. Nun wird es freilich nirgends geläugnet,
daß zur Ausbildung der Dogmen wie der kirchlichen Institutionen jüdische und
heidnische Elemente mitgewirkt haben. Aber man pflegte sich doch früher die
Sache so vorzustellen, als ob eine Zeit lang Kirche und Lehrbegriff sich in ur¬
sprünglicher Reinheit erhalten und erst später von außen Fremdartiges sich ein¬
gedrängt hätte, und daher datirte man dann die Depravation des Katholicis¬
mus. Allein die Wahrheit ist, daß es nie eine Kirche und nie einen Lehrbegriff
gab ohne jene Einmischung fremder Elemente. Das '.Christenthum constituirte
sich eben indem es sich mit diesen Elementen sättigte, sie kamen so wenig erst
von außen herzu, daß wir die tiefste Wurzel ihres Einflusses vielmehr schon
im Messiasbegriff erkennen müssen. Die Verwirklichung des Christenthums war
unmittelbar seine Verweltlichung. Aber die reine Idealität der ursprünglichen
Lebre Jesu ist auch die.ewig.fortwirkende Kraft, durch.welche es sich immer
wieder aus seiner Verweltlichung in Lehre und Verfassung herauszureißen strebt
und vermag.

So ist denn das Christenthum als die Idee einer rein geistigen Religion
das letzte reinste Resultat der vorausgegangenen Entwicklungen und eben damit
der Anfang einer neuen Entwicklungsreihe. Ueberall ist Ursache und Wirkung.
Zufall und Willkür haben hier keine Stelle mehr. Nirgends ist eine Lücke, die
durch ein Wunder ausgefüllt werden müßte. So fein und vielverschlungen sind
die Fäden, die von dem Alten zum Neuen überleiten, daß wir nirgends eine
scharfe Grenzlinie ziehen können: hier hört das Alte auf, hier beginnt das
Neue. Und wir meinen, es gebe für die Betrachtung nichts Größeres, nichts
Erhabeneres, als diesen engen Zusammenhang, in welchem die Religion Jesu
nach rückwärts wie nach vorwärts in der Weltgeschichte steht.

Aber schon lange hören wir eine Einwendung, die in der That nahe liegt.
Wenn so der absolute Anfang des Christenthums gleichsam auseinandergelegt
wird in eine Reihe von Ursachen und Folgen, wo bleibt dann die Persönlich¬
keit Jesu, die Bedeutung seiner That, seine Originalität, seine geschichtliche
Würde? Ist nicht schon durch die außerordentlichen Wirkungen, die sich an
seinen Namen knüpfen, bezeugt, daß er eine ganz einzig geartete Persönlichkeit
war; ist es nicht schließlich doch seine Person, welche mitten inne steht zwischen
der alten und neuen Welt? Wir stellen die Gegenfrage: entzieht es Luther
etwas von seinem Verdienst, bleibt er nicht der gewaltige Reformator, bleibt
nicht die Reformation dennoch feine gewaltige That, auch wenn wir dieselbe
als den Abschluß einer längeren Entwicklungsreihe, als die Blüthe der in der
damaligen Zeit gährenden und wogenden Elemente, als den höchsten Ausdruck
des damaligen Zeitbewußtseins verstehen? Das Große an seiner Wirksamkeit
ist doch dies, daß er in den Kämpfen seiner Seele den Kampf seiner Zeit
durchkämpfte, daß er mit seiner eigensten Geistesthat in das Herz seiner Mit-


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[0433] Nahrung aus vorchristlichen Ideen. Nun wird es freilich nirgends geläugnet, daß zur Ausbildung der Dogmen wie der kirchlichen Institutionen jüdische und heidnische Elemente mitgewirkt haben. Aber man pflegte sich doch früher die Sache so vorzustellen, als ob eine Zeit lang Kirche und Lehrbegriff sich in ur¬ sprünglicher Reinheit erhalten und erst später von außen Fremdartiges sich ein¬ gedrängt hätte, und daher datirte man dann die Depravation des Katholicis¬ mus. Allein die Wahrheit ist, daß es nie eine Kirche und nie einen Lehrbegriff gab ohne jene Einmischung fremder Elemente. Das '.Christenthum constituirte sich eben indem es sich mit diesen Elementen sättigte, sie kamen so wenig erst von außen herzu, daß wir die tiefste Wurzel ihres Einflusses vielmehr schon im Messiasbegriff erkennen müssen. Die Verwirklichung des Christenthums war unmittelbar seine Verweltlichung. Aber die reine Idealität der ursprünglichen Lebre Jesu ist auch die.ewig.fortwirkende Kraft, durch.welche es sich immer wieder aus seiner Verweltlichung in Lehre und Verfassung herauszureißen strebt und vermag. So ist denn das Christenthum als die Idee einer rein geistigen Religion das letzte reinste Resultat der vorausgegangenen Entwicklungen und eben damit der Anfang einer neuen Entwicklungsreihe. Ueberall ist Ursache und Wirkung. Zufall und Willkür haben hier keine Stelle mehr. Nirgends ist eine Lücke, die durch ein Wunder ausgefüllt werden müßte. So fein und vielverschlungen sind die Fäden, die von dem Alten zum Neuen überleiten, daß wir nirgends eine scharfe Grenzlinie ziehen können: hier hört das Alte auf, hier beginnt das Neue. Und wir meinen, es gebe für die Betrachtung nichts Größeres, nichts Erhabeneres, als diesen engen Zusammenhang, in welchem die Religion Jesu nach rückwärts wie nach vorwärts in der Weltgeschichte steht. Aber schon lange hören wir eine Einwendung, die in der That nahe liegt. Wenn so der absolute Anfang des Christenthums gleichsam auseinandergelegt wird in eine Reihe von Ursachen und Folgen, wo bleibt dann die Persönlich¬ keit Jesu, die Bedeutung seiner That, seine Originalität, seine geschichtliche Würde? Ist nicht schon durch die außerordentlichen Wirkungen, die sich an seinen Namen knüpfen, bezeugt, daß er eine ganz einzig geartete Persönlichkeit war; ist es nicht schließlich doch seine Person, welche mitten inne steht zwischen der alten und neuen Welt? Wir stellen die Gegenfrage: entzieht es Luther etwas von seinem Verdienst, bleibt er nicht der gewaltige Reformator, bleibt nicht die Reformation dennoch feine gewaltige That, auch wenn wir dieselbe als den Abschluß einer längeren Entwicklungsreihe, als die Blüthe der in der damaligen Zeit gährenden und wogenden Elemente, als den höchsten Ausdruck des damaligen Zeitbewußtseins verstehen? Das Große an seiner Wirksamkeit ist doch dies, daß er in den Kämpfen seiner Seele den Kampf seiner Zeit durchkämpfte, daß er mit seiner eigensten Geistesthat in das Herz seiner Mit- Grmzboten III. 18K4. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/433>, abgerufen am 28.09.2024.