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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Indeß wird es doch allmälig Heller in dieser Dunkelheit. Kundige Lands¬
leute, die in den letzten zwanzig Jahren öfter Unteritalien bereisetcn, haben
mir wiederholt, jedesmal hätten sie Fortschritte bemerkt, das Volk sei früher
viel düsterer, unsauberer, geistig roher erschienen. Nun ist das Jahr Achtund¬
vierzig gekommen: seit diesem Jahre gingen viel weniger Mädchen in die Klö¬
ster, und kamen viel mehr Bücher und genfer Erzieherinnen ins Land. Das
Jahr Sechszig fuhr vollends in die stehenden dumpfen Wolken mit scharfem
Luftzug hinein. Obgleich sich alles kopfüber in Politik und Grimm und lichter¬
lohe Ideen stürzte, einige Männer gab es doch in jeder größeren Stadt, welche
sich fragten: das Leben unsers Volkes, in welchem so viele natürliche Kraft
und Geschicklichkeit steckt, warum ist es so ganz verkommen im kleinlichen Wesen?
Warum ist sein frischer Baumwuchs so überwuchert von Gestrüpp? Und sie
mußten sich sagen: alles Uebels Grund ist der Mangel an Bildung. Wo am
wenigsten Bildung, dort liegen Gewerb und Anbau am tiefsten danieder, dort
geschehen am meisten Frevel. Um jeden Preis will man sich nun losringen
von der Herrschaft und Schule der Geistlichen, weil man nach anderer und
mehr Bildung sich sehnt, als sie zu geben vermögen. Und merkwürdig genug,
unter diesen Geistlichen selbst ist eine heftige Bewegung entstanden. Leidenschaft¬
lich studiren und treiben die jüngeren Philosophie und Politik, schreiben Bücher
und arbeiten in der Zeitungspresse. Nur in Neapel konnte die "Gesellschaft
zur Befreiung der italienischen Priesterschaft" entstehen, welche kein Sacrament
antasten, die ganze Hierarchie aber zertrümmern will und eine italienische Na¬
tionalkirche schaffen.




Volksbrauch und Aberglaube im Erzgebirge.
i.

Im Folgenden richten wir unsre Aufmerksamkeit nur aus das sächsische
Erzgebirge und auch hier nur auf die Sitten und Vorstellungen des Landvolks.
Auch in den Städten findet sich noch mehr Alterthümliches und Eigenthümliches,
als man nach der Abgeschliffenheit und Nüchternheit des städtischen Elements
im übrigen Sachsen und Mitteldeutschland überhaupt vermuthen sollte, und
Spieß*), dessen Sittenschilderung der Obererzgebirger wir im Nachstehenden



Aberglaube, Sitten und Gebräuche des sächsischen Obererzgebirges.
Von Dr. Moritz Spieß. Zu finden in dem 19. Jahresbericht über die Progymnasial- und
Necilschulanstalt zu Annaberg, Dresden, C, C. Meinhold und Söhne, 1862, Die Abhand¬
lung ist 78 enggedruckte Quartsciten stark und gehört, einige unrichtige Deutungen von Aus¬
drücken abgerechmt, zu den besten ihrer Art, jedenfalls verdient sie ihrer Reichhaltigkeit nach
die Beachtung derer, die sich mit Sittcnvergleichung und Volksnaturgeschichte überhaupt be¬
schäftigen.

Indeß wird es doch allmälig Heller in dieser Dunkelheit. Kundige Lands¬
leute, die in den letzten zwanzig Jahren öfter Unteritalien bereisetcn, haben
mir wiederholt, jedesmal hätten sie Fortschritte bemerkt, das Volk sei früher
viel düsterer, unsauberer, geistig roher erschienen. Nun ist das Jahr Achtund¬
vierzig gekommen: seit diesem Jahre gingen viel weniger Mädchen in die Klö¬
ster, und kamen viel mehr Bücher und genfer Erzieherinnen ins Land. Das
Jahr Sechszig fuhr vollends in die stehenden dumpfen Wolken mit scharfem
Luftzug hinein. Obgleich sich alles kopfüber in Politik und Grimm und lichter¬
lohe Ideen stürzte, einige Männer gab es doch in jeder größeren Stadt, welche
sich fragten: das Leben unsers Volkes, in welchem so viele natürliche Kraft
und Geschicklichkeit steckt, warum ist es so ganz verkommen im kleinlichen Wesen?
Warum ist sein frischer Baumwuchs so überwuchert von Gestrüpp? Und sie
mußten sich sagen: alles Uebels Grund ist der Mangel an Bildung. Wo am
wenigsten Bildung, dort liegen Gewerb und Anbau am tiefsten danieder, dort
geschehen am meisten Frevel. Um jeden Preis will man sich nun losringen
von der Herrschaft und Schule der Geistlichen, weil man nach anderer und
mehr Bildung sich sehnt, als sie zu geben vermögen. Und merkwürdig genug,
unter diesen Geistlichen selbst ist eine heftige Bewegung entstanden. Leidenschaft¬
lich studiren und treiben die jüngeren Philosophie und Politik, schreiben Bücher
und arbeiten in der Zeitungspresse. Nur in Neapel konnte die „Gesellschaft
zur Befreiung der italienischen Priesterschaft" entstehen, welche kein Sacrament
antasten, die ganze Hierarchie aber zertrümmern will und eine italienische Na¬
tionalkirche schaffen.




Volksbrauch und Aberglaube im Erzgebirge.
i.

Im Folgenden richten wir unsre Aufmerksamkeit nur aus das sächsische
Erzgebirge und auch hier nur auf die Sitten und Vorstellungen des Landvolks.
Auch in den Städten findet sich noch mehr Alterthümliches und Eigenthümliches,
als man nach der Abgeschliffenheit und Nüchternheit des städtischen Elements
im übrigen Sachsen und Mitteldeutschland überhaupt vermuthen sollte, und
Spieß*), dessen Sittenschilderung der Obererzgebirger wir im Nachstehenden



Aberglaube, Sitten und Gebräuche des sächsischen Obererzgebirges.
Von Dr. Moritz Spieß. Zu finden in dem 19. Jahresbericht über die Progymnasial- und
Necilschulanstalt zu Annaberg, Dresden, C, C. Meinhold und Söhne, 1862, Die Abhand¬
lung ist 78 enggedruckte Quartsciten stark und gehört, einige unrichtige Deutungen von Aus¬
drücken abgerechmt, zu den besten ihrer Art, jedenfalls verdient sie ihrer Reichhaltigkeit nach
die Beachtung derer, die sich mit Sittcnvergleichung und Volksnaturgeschichte überhaupt be¬
schäftigen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/358>, abgerufen am 28.09.2024.